Offener Brief an denkende


Menschen

 

Wir leben in einer abendländischen Welt, in der Wertevorstellungen verankert sind. Vielleicht glauben wir nicht alle daran, dass Menschen unrein werden können, vielleicht glauben wir nicht an die Sünde, aber wir glauben an ihre psychischen Entsprechungen. Wir akzeptieren, dass der Mensch, der von Schuld weiss, nicht gesund sein kann und können nicht akzeptieren, dass Menschen, die Verbrechen auf dem Gewissen haben, gesund und unversehrt sind.

 

Wir leben in einer angenehmen und bequemen Umgebung, in der es nichts Schreckliches zu sehen gibt – keine Versuchslabors der Pharmaindustrie, keine Grossmästereien, keine Schlachthöfe. Und doch sind wir sicher, dass es sie gibt – sie machen nur keine Reklame für sich.

Sie sind überall in der Nähe, und währenddem du dies hier liest, werden da, in der gleichen friedlichen Stadt,  Mitgeschöpfe, unsere „Brüder und Schwestern“, wie Franziskus von Assisi sie zu nennen pflegte, schuldlose Tiere, abgeschlachtet.

Warum? Weil die menschliche Zunge nach ihren Körpern dürstet.

Legitimiert die Genusssucht das Leid, den Tod meines Nächsten? Wie sehr geht doch die verharmloste Handlung des Fleischessens unseren tiefsten Fundamentalwerten entgegen. Die Untreue zu unseren eigentlichen Überzeugungen und Anschauungen, die ja nichts anderes darstellen als Grundlagen menschliche Kultur (Recht auf Leben von allen zu wahren, Vermeiden unnötiger Gewalt, Nicht-Töten – auch dann nicht, wenn es mir einen Vorteil beschaffen würde), die der Hedonismus erzeugt, resultiert in einer Stumpfheit und Gleichgültigkeit, die vielleicht noch tragischere Folgen auf unserer Welt hat wie die Ermordung der Tiere selber.

 

 

Zwischen 1942 und 1945 wurden mehrere Millionen Menschen in den Konzentrationslagern des dritten Reiches umgebracht – in Treblinka allein mehr als anderthalb Millionen, vielleicht sogar drei Millionen. Das sind Zahlen, die über unser Vorstellungsvermögen hinausgehen. Jeder von uns stirbt nur einen Tod; den Tod von anderen können wir nur als Einzelfall, als Individualschicksal, begreifen. Abstrakt können wir vielleicht bis eine Million zählen, aber wir können nicht eine Million Tode verstehen.

Die Leute, die in der Gegend von Treblinka lebten, sagten, dass sie nicht gewusst hätten, was im Lager vor sich ging; sie sagten, im Allgemeinen hätten sie es sich schon denken können, was da vor sich ging, aber sie wollten es nicht.

Nur schon um ihrer selbst willen hätten sie es sich nicht leisten können, es nicht zu wissen. Die Leute aus der Gegend von Treblinka waren keine Ausnahme. Lager hat es im ganzen Reich gegeben, fast sechstausend allein in Polen, viele Tausende in Deutschland. Nur wenige Deutsche wohnten mehr als ein paar Kilometer entfernt von irgend einem Lager. Nicht jedes Lager war ein Todeslager, das der Produktion des Todes gewidmet war, doch Schreckliches geschah in allen von ihnen.

In den Bedingungen des Hitler-Deutschland war es vielleicht eine nützliche Überlebungsstrategie gewesen, nichts wissen zu wollen, aber es ist nie Entschuldigung.

Indifferenz dem Leiden anderer gegenüber ist die grösste Verrauhung  menschlicher Existenz. Wir verlieren unser Menschsein in dieser bewusst gewählten Ignoranz dem Schicksal anderer gegenüber.

Bert Brecht schreibt in einem Gedicht darüber:

 

O ihr Unglücklichen!

Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu!

Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?

Der Gewalttätige geht herum und wählt seine Opfer

Und ihr sagt: "uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen."

Was ist das für eine Stadt, was seid ihr für Menschen!?

Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein

Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, dass die Stadt untergeht

Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird."

 

Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich in allem messen kann, wozu das dritte Reich fähig war, ja es noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt, sich selber regeneriert, unaufhörlich Kaninchen, Geflügel, Schweine und Kühe für das Messer des Schlächters auf die Welt bringt.

 

Und wenn man Haarspalterei betreibt, indem man behauptet, Treblinka sei ein Unternehmen gewesen, das nur dem Tod und der Vernichtung gedient habe, während die Fleischindustrie letztlich dem Leben diene (wenn ihre Opfer erst einmal tot sind, werden sie schliesslich nicht zu Asche verbrannt oder verscharrt, sondern sie werden zerteilt, verpackt, gebraten und bequem zu Hause verspeist), dann kann das die Opfer menschlicher Genusssucht ebenso wenig trösten, wie es die Toten in Treblinka getröstet hätte, wenn man zur Legitimation ihrer Tötung vorgebracht hätte, dass ihr Körperfett in Seifen und ihr Haar in Matratzenfüllung umgewandelt würde.