Zeuge sein

Unverzerrte Wahrnehmung, also Wahr-nehmung im eigentlichen Sinne, ist nur im Zeugesein möglich. 

Im Zeugesein zu verweilen bedeutet, mit dem, was wahrgenommen wird, nicht zu verschmelzen und nicht mit ihm verwoben zu sein. 

Dem Zeugen ist das Wahrgenommene gleichgültig. Für ihn spielt es keine Rolle, ob es sich um positive oder negative Wahrnehmungen handelt, um abstossende oder sympatische. Zorn oder Liebe, Gefühlslosigkeit oder Gefühlsintensität, Gedankenfreiheit oder Gedankenfülle, Gesundheit oder Krankheit, hässliche oder schöne und faszinierende Bilder im Aussen oder im Innen – all das ist dem Zeugen gleichwertig. 

Siddha asiddhayoh samah bhutva (Bhagavad gita 2.48) „Gleich im Erfreulichen und Unerfreulichen“

Gleichmütig bezeugt er, was zu bezeugen ist. 

 

Dieser Zeuge ist das eigene Selbst und dieses Zeugesein muss im Verlaufe spiritueller Entwicklung entdeckt werden als sein natürlicher Zustand. Dazu hat der Rückzug aus der Veräusserlichung zu geschehen, der Rückzug von dem, was einem immer wieder nach aussen treibt, in die Identifizierung mit dem Vorbeifliessenden. Der Zeuge ist unbeteiligt an dem, was er bezeugt.

Die Kraft, die nach aussen treibt, sind unerfüllte Wünsche, die einen vortäuschen, den Zustand der Erfülltheit, nach dem man sich sehnt, zu erlangen, wenn man einfach ihnen folgen würde.

Der Ort des Aufenthaltes der Wahrnehmung, des Bewusstseins, ist somit der Ort des Habens. Ein Ort, an dem es für den Unerfüllten, für den Bettler, etwas Vermeintliches zu holen gibt. Bettler kennen die Mülltonnen ihrer Umgebung sehr genau. Doch diese verheissungsvollen Orte entpuppen sich immer wieder als Orte des Leidens, manchmal gar des Grauens. Und das Erstaunliche ist, dass man es dennoch immer wieder versucht. 

 

Der einzige Ort, an dem man sich als übender Spiritualist aufhalten soll, ist der Zeugenstand. Die Wiederentdeckung des Zeugen ist das Ziel einer jeden Meditation. Denn im Zeugesein löst sich alles Leid. 

Leid ist ja nichts anderes als die Beziehung zu dem, was man sieht, denkt oder fühlt. Der Zeuge ist ausserhalb davon. 

 

Viele verwechseln den Zeugen mit einem distanzierten Beobachter, der die Unberührbarkeit der Beobachterposition benutzt, um sich von bedrohlichen Wahrnehmungen zu distanzieren und zurückzuziehen. Dieser Beobachter ist ein Instrument der Feigheit und der Verweigerung. Das Zeugesein ist die Mitte einer jeden Pendelbewegung inneren Tuns. Das Zeugesein wird entdeckt im Nicht-Tun. Darin erfährt man die Überflüssigkeit des Einwirkens auf das, was im Äusseren geschieht.

 

Man hat gelernt und es sich lange Zeit angewöhnt, wegzulaufen, weg nach aussen in die Veräusserlichung seiner selbst, hin zu dem, was wahrgenommen wird. Dann erfolgt die Verschmelzung mit dem und die gefühlsmässige Bewertung dessen.

Im Zeugesein erkennt man deutlich, dass diese Verschmelzung mit dem Wahrgenommenen im Äusseren Leid ist, auch wenn das Wahrgenommene gerade einmal angenehm und wunderschön ist.

Die meisten Menschen kennen nichts anderes und so haben sie vollkommen vergessen, dass es den Stand des Zeugen überhaupt gibt. Und in Folge dieses Prozesses des Vergessens ist das eigene Bewusstsein von den Objekten der Wahrnehmung mehr und mehr vernebelt worden. Eingeschrumpft. Dann landet man im Zustand der Eingenommenheit mit äusseren Zuständen. 

 

Warum wandert man ein ganzes Leben umher, von einem Ort zum anderen, immer unterwegs im Geiste, immer auf der Suche, immer im Krieg mit den Umständen, einfach nicht bereit, in der Seele zu sein, nur Zuschauer, nur Zeuge zu sein….

 

Das Zeigesein wird verlassen in der Identifikation mit dem, was auf der Leinwand des Bewusstseins erscheint. Der Geist ist die Leinwand, auf die der Lebensfilm projiziert wird. Wird der Zeuge je bedroht von dem, was auf der Leinwand erscheint? Verbrennt der Zeuge, wenn auf der Leinwand Feuer erscheint? Wird der Zeuge weggeschwemmt, wenn auf der Leinwand Wasser erscheint?

 

Nainam chindanti sastrani (Bhagavad gita 2.23)

Waffen verletzen die ewige Seele nicht, noch kann sie von Feuer verbrannt, von Wasser benetzt, oder vom Wind verdorrt werden.

 

 

Es gibt keinen unpersönlichen Zeugen. Der Zeuge-Stand ist der erste Schritt, sich als ewige Seele in dieser Welt der Vergänglichkeit und des Vorbeiziehens von Phänomenen wieder zu etablieren.