Meditation und Kontemplation

Eine Mutter führt ihr Kind an der Hand. Allein kann es noch nicht gehen, es würde hinfallen und sich weh tun. Ganz fest hält sie es darum, und es lässt sich gerne festhalten. Aber gerade dadurch hat es nun einen rechten Spielraum: es springt und hopst, wirft sich zur Seite, drängt sich an die Mutter, schüttelt ihre Hand oder zerrt daran, es tollt auf seine Weise sein eigenes kleines Leben – aber doch immer von ihr gehalten. Es stützt sich ganz auf die Mutter, ihre Kraft, Hilfe und Liebe; aber es tut in weitem Masse das, was es selbst gern will, und die Mutter lässt es lächelnd gewähren. Es soll ja seine Kräfte entfalten und nicht etwa wie ein ganz Kleines sich immer nur tragen lassen – das wäre des Lebens zu wenig.

 

Ein anderes Mal geht diese Mutter mit dem Kind durch ein gefährliches Moor, um Freunde zu besuchen. Wieder hat sie es an der Hand. Diesmal geht sie nicht neben ihm, sondern vor ihm, denn der Weg ist ganz schmal. Das Kind hält sich genau hinter ihr, es lässt die Hand keinen Augenblick los, es ist ihm auch nicht danach zu Sinne. Jetzt ist alles Tollen und Springen vorbei. Ganz treulich vollzieht es die Bewegungen der Mutter mit. Die macht ganz kleine Schritte, sich dem Kinde anpassend; zuweilen wird einer etwas grösser, und das Kind muss sich etwas mehr bemühen. Immer aber ist es ihr auf den Fersen: es geht nicht so sehr seinen Weg, als vielmehr ihren, und gerade so wird es „sein“ Weg, und zwar der jetzt einzig richtige. So berechtigt und erwünscht damals sein „Eigen-Wille“ war, und so gern die Mutter ihm den zugestand und sich darüber freute: jetzt würde sie würde sie ein sehr ernstes Gesicht machen, wenn das Kleine nicht sehr genau folgte und in ihre Fussstapfen träte. Es hat ganz gewiss noch seinen Willen, seinen eigenen: aber nicht mehr einen frei spielenden, der gewissermassen neben dem Willen der Mutter her sine Bahn suchte, sondern sein Wille ist ganz eingegangen in den der Mutter. Sie führt und es lässt sich führen: bin in die kleinsten Bewegungen und Biegungen und das Schrittmass... Dann und wann gibt es eine gar zu sumpfige und für das Kind nicht zu überschreitende Stelle, auch einmal einen Torfgraben mit einem reichlich schwanken Steg: dann nimmt die Mutter es kurzerhand auf den Arm und trägt es; es schmiegt sich ganz an sie, schaut lieber erst gar nicht hinunter in das düstere braune Wasser, sondern ist ganz nur an ihrem lieben Gesicht, aus dem die beiden Augen es immer wieder anlächeln und in Bann nehmen.... Dann setzt sie es wieder nieder, und es trippelt wie zuvor hinter ihr: und nie war es so wenig ermüdet und fühlte sich so herrlich aufgehoben in der Treue und Kraft der Mutter.

 

Wen man will, kann man sagen: im ersten Bild was das Kind „aktiv“, im zweiten „passiv“. Dort tat es sehr viel, alle seine Kräfte waren im lebensvollen Spiele, und lebte „sich“, wenn auch bei der Mutter und ohne den Wunsch etwa, sich von ihr zu trennen. Im zweiten Bild lässt es sich leiten bis in die kleinste Kleinigkeit. Es hat sich in allem der Mutter angepasst. Nimmt in allem ihren Willen in sich ein und gleicht den eigenen dem der Mutter an. So ist es in gewissem Sinne „passiv“, nachvollziehend, was von der Mutter zu ihm kommt und es mit-nimmt. Und doch ist hier die Aktivität weit grösser als dort. Denn das genaue Sicheinfügen und Sichanpassen erfordert eine viel grössere Anspannung, Achtsamkeit und Bereitwilligkeit! Anscheinend tut hier die Mutter alles, das Kind tut „nichts“ aus sich, und doch ist seine ganze Kraft in Aktion, im Mittun: Auge, Hand, Fuss, Wahrnehmen, Wollen und Empfinden, alles ist mit dabei; das alles ist wie erfüllt und durchdrungen und durchtränkt vom Tun der Mutter, ihr Wille hat sich dem seinen so ganz mitgeteilt, dass eine volle Übereinstimmung besteht. 

Es ist nicht eine volle Übereinstimmung des Verstehens, denn selbst wenn die Mutter versuchen würde, dem Kind einigermassen die Gefährlichkeit des Moorweges und den Sinn des so genauen Nach-Folgens klarzumachen, es würde doch nur einiges davon wirklich begreifen. Aber das ist ja auch gar nicht wichtig: es kommt schliesslich nur darauf an, dass es mit-tut, dass es jetzt nicht sein Eigenes will, und dass es so ans Ziel gelangt, ungefährdet und vollkommen beschenkt mit diesem Ziele. Es weiss: die Mutter hat es sehr lieb, also wird das, was sie ihm sagt, schon recht sein, und es vertraut sich der Führung durch die Liebe ohne weiteres an.

 

Das Kind lebt nun für ein Weilchen ganz das Leben der Mutter mit, fast so wie damals, als es noch in ihrem Schosse weilte: jetzt aber in grösserer Freiheit und dem Einsatz des eigenen Herzens. 

 

Wie kann man denken, dass im „passiven“, im kontemplativen Gebet, nichts geschieht; dass die Seele dabei träge sei und sie sich ihr Beisammensein mit Gott nur vorstelle? Man kann nicht nur aktiv und tätig sein und sich Heil erwirken wollen....

 

Im aktiven, meditativen Gebet, kann sie einer inneren Anregung folgen und sich einem bestimmten Gedanken zuwenden, den sie dann reflektiert und aus ihm herausholt, was sie gerade für ihren Sadhana braucht. Immer unter der Gnade, immer von ihr gesegnet und angetrieben, und wie unter dem Lächeln Krishnas....Aber eben doch so, dass sie arbeitet, dass sie eindringt, vergleicht. Sie hat einen oft sehr grossen Spielraum und nutzt ihn aus – und soll ihn auch ausnutzen! Sie spürt deutlich ihr eigenes Tun, und ist unzufrieden, wenn sie sich darin irgendwie behindert vorkommt. Sie will: für Gott, und zu Gott hin, und von Ihm angeregt – aber ihr Wollen geht sozusagen „neben“ Gottes Wollen her, kreist um Ihn. 

 

Bei der Kontemplation liegt es anders. Da wird die Seele auf besondere Weise von ihrem sonstigen und bisherigen geistlichen Tun fortgezogen. Sie kann und soll nicht mehr ihre „eigenen“ Schritte machen. Krishna will nun, dass sie sich Ihn auf eine viel weitgehendere Weise überlasse als je zuvor. Sie soll Ihn folgen bis in die geringsten inneren Regungen und Bewegungen hinein. Darf sich nun nicht mehr aussuchen und auswählen: Er allein bestimmt Schritt und Mass und alles. Sie gibt „sich“ auf, wenn auch langsam und unter Erschütterungen. Es war so schön, sich zu tummeln, zu singen und zu preisen, zu jubeln, zu schwärmen und zu entdecken, zu bitten und auch zu bereuen, wie man sich gerade fühlte. 

Jetzt gibt nur noch Gott ein. Sie aber „folgt“. Oft „versteht“ sie nicht das Geringste von dem, was Er in ihr tut, und was Er sie tun macht; aber mehr und mehr verliert das für sie an Bedeutung; sie kümmert sich nicht mehr um Zwecke und Auswertungen und die Durchdringung auch vom Kopf her (das exakte Verstehen). Sie weiss sich geliebt – auf eine geheimnisvolle Weise weiss sie es, und niemand kann es ihr ausreden oder in ihr da einen Zweifel setzen. 

 

Die Seele weiss, dass Er da ist, sie liebt und leitet. Dass Er in allem absolut recht hat, und nur Er, dass es kein Eigenrecht daneben geben kann und soll. Ihr tiefes verborgenes Glück besteht gerade darin, dass sie sich so an Ihn allein verliert; denn so will es ja die Liebe, dies ist ihr wahres Wesen. „Verstehen“ ruht immer noch im Ich als Mitte. Liebe ist ein Ausser-Sich-Sein, ein Schon-Darüber-Sein, und sie hat das DU als Mass und Ordnung und Wegweisung. Ihrem Ich traut sie nicht mehr so viel – so wunderbar ist es, in Seinen Händen geführt zu sein. 

Aber dies ist nicht leicht. Leicht und doch so fordernd, dass die Betrachtung ein Kinderspiel daneben war. Denn unter dem Anschein der Passivität ist ja hier die Seele so aktiv wie überhaupt nur denkbar: weil es keine grössere Aktivität des Geistes geben kann als Gleichheit des Wollens in der Zweiheit des Seins – der Liebe.