Offene Briefe an denkende Menschen

 

Alljährlich schreibe ich einen "Offenen Brief an denkende Menschen", der von einer Tierschutzorganisation als Weihnachts - Gedankenanstoss verschickt und auch von Vegi-Aktivisten vor Metzereien verteilt wird.

Der folgende Gedanke stammt aus einem wunderbaren Buch von J.M. Coetzee („Das Leben der Tiere“)
Es ist eine Geschichte über eine alte Schriftstellerin, die eingeladen wurde, um an einer Universität eine Vorlesung zu halten.

„Ich kann nicht mehr sagen, wo ich mich befinde.
Es hat den Anschein, als bewegte ich mich völlig ungezwungen unter den Menschen, als hätte ich völlig normale Beziehungen zu ihnen.
Ist es denn möglich, frage ich mich, dass sie alle an einem Verbrechen unvorstellbaren Ausmasses teilhaben?
Phantasiere ich mir alles zusammen? Ich muss verrückt sein! Aber tagtäglich sehe ich die Beweise. Eben die Leute, die ich verdächtige, liefern den Beweis, stellen ihn zur Schau, bieten ihn mir an: Leichen. Leichenteile, die sie mit Geld gekauft haben.
Es ist, als würde ich Freunde besuchen und eine höfliche Bemerkung über ihre Lampe in ihrem Wohnzimmer machen, und sie würden sagen:

„Ja, sie ist nett, nicht wahr? sie ist aus polnisch-jüdischer Haut gefertigt, wir finden, die ist die beste Qualität.“ Und dann gehe ich ins Bad, und auf der Seifenhülle steht: "treblinka - 100% menschliches Stearin." Träume ich, frage ich mich? Was ist das für ein Haus? Doch ich träume nicht. Ich schaue in ihre Augen und ich sehe nur Freundlichkeit, menschliche Freundlichkeit.
Beruhige dich, sage ich mir. Du machst aus einer Mücke einen Elefanten. So ist das Leben. Alle anderen finden sich damit ab, warum kannst du es nicht? Warum kannst du es nicht?“


Eigentlich darf ich nicht..... Abfindung ist ein Zeichen des Einverstandenseins, ist heimliche Gutheissung, ist Unterstützung.

Widerstand gegen gesellschaftlich akzeptiertes Unrecht ist die Grundlage des Wachseins. Dort, wo die Ungeheurlichkeit vom Kollektiv als zugehörig zum Alltag angesehen wird, ist der aufrüttelnde Hinweis nicht einfach nur mehr eine Möglichkeit unter vielen. Er ist ethische Pflicht. Eine Dringlichkeit des wachen Herzens.

 

Gäbe es beispielsweise Hörbücher mit Hitler, der Gedichte von Rainer Maria Rilke vorträgt – es fiele schwer, sie zu geniessen. Oder solche mit dem Inzestverbrecher von Amstetten, der Liebeslyrik liest oder Gute-Nacht-Geschichten für kleine Kinder. Es wäre abscheulich. Es geht eben nicht nur um die Kunst, sondern um den moralischen Status, den der Künstler und Vortragende lebt.
Fleischesser mögen liebe Menschen sein. Aber dieses ethische Fehlverhalten darf man nicht verharmlosen.

 

 


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