Was ist eine gute Religion?

Erfahrung der Religion

Wird der Mensch sich seines Seins bewusst, sucht er nach einem Sinn, einer Bedeutung seiner Existenz. Er sucht Geborgenheit und zugleich die Relevanz seines Daseins in der Welt.

Religion vermag einen letztlichen Sinnhorizont zu vermitteln und damit ein Sich-Erheben über die eigene Begrenztheit. 

 

Die Erkenntnis höherer Macht löst die Angst auf, die den Menschen in seinen Unsicherheiten plagen. Er lebt dann nicht nur in einer unsicheren Welt von unbeherrschbaren Naturgewalten regiert, sondern erlebt die Aufgehobenheit in höheren, lieblichen Händen.

Religion führt zu einer parallelen Erfahrung, einer Ergänzung zum erlebten Dasein in der Welt. Sie schenkt Gleichmut trotz Unsicherheit, Gewissheit trotz Hilflosigkeit, und Stärke, die nicht aus der Macht und der Unverletzlichkeit herrührt, sondern aus der Ihm zugestandenen Schwäche, der Ergebenheit.

 

Kann Religion schlecht sein?

Religion ist ideologieverdächtig und sie ist ideologieanfällig. Sie kann fundamentalistisch werden: unduldsam, intolerant, doktrinär und indoktrinierend, streit-und herrschsüchtig, auf politische Macht erpicht, gewalttätig. Aber Religion ist nicht dasselbe wie Ideologie. 

Nicht jede Religion ist das „Opium des Volkes“, das Karl Marx darin sah. (Wobei der Religionskritiker Marx der Religion immerhin zugestand ein „Seufzer der bedrängten Kreatur“ zu sein.

 

Oberflächliche und unreflektiert übernommene Religion

Die meisten Menschen hängen ihrer Religion nicht an, weil sie sie gut finden, sondern sie finden sie gut, weil sie ihr anhängen. Das ist wie mit der Muttersprache. Die Worte, Rituale und Gepflogenheiten, in denen man zuerst ein grosses Heilsversprechen mitgeteilt bekam, gehören zum Grundboden des Sicherheitsgefühls.

 

 

Gute Religion

„Religion ist Geschmack für das Unendliche“, formulierte der deutsche Theologe Friedrich Schleiermacher im Jahre 1799. 

Gute Religion muss den Sinn für die Mündigkeit wecken und den Geschmack von Freiheit in sich tragen. 

Gute Religion lehrt zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Religiosität des Menschen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist um beider willen nötig: um Gottes willen, weil ihm nur auf der Grundlage einer solchen Unterscheidung die Ehre gegeben wird; und um der Religion willen, weil sie nur so als das begriffen werden kann, was sie ist: der Versuch des Menschen, die Gnade Gottes zu erfassen.

 

Güter, die sich wegen ihrer Unentbehrlichkeit fortdauernd in Erinnerung halten, können gleichwohl mehr oder weniger tauglich sein. Mit der Religion steht es ähnlich wie mit dem Wasser: Jeder braucht es, und die Erfahrung unserer Angewiesenheit darauf intensiviert sich noch, wenn die Qualität, in der es verfügbar ist, schlecht ist. 

Auf die Religionsgeschichte übertragen heisst das: Das Verlangen nach besserer Religion ist selber bereits religiöses Verlangen. 

Religionsgeschichte ist die Auseinandersetzung mit religiösen Unbekömmlichkeiten, mit Unlebbarkeiten. 

 

 

Frieden zwischen den Religionen und Konfessionen ist nicht durch Heraushebung der Gemeinsamkeiten förderbar. In der Betonung der nicht zu leugnenden Gemeinsamkeiten mehrt man stets zugleich die Auffälligkeit dessen, was bleibend einen auch trennt. Und die Gegnerschaft zwischen Brüdern ist immer besonders erbittert.

 

 

Gut und nützlich

Früher sollte das Weltliche dem Religiösen dienen, und heute neigen viele dazu, das Verhältnis umzukehren. Religion wird dann als Mittel zu guten Zwecken in dieser Welt gesehen. Der moderne Staat braucht, um existieren zu können, die vorpolitische Grundlage der Moral, welche von Religionen gestiftet und gemauert werden. „Wer glaubt, fühlt sich besser“, sagt die moderne Psychotherapie. Um Orientierung und soziale Integration zu gewinnen soll man sich nun auf religiöse Werte zurückbesinnen. Und selbst spirituelle Exponenten erklären, dass ohne Religion keine Menschenwürde existiere, und verschaffen dadurch der Religion politische Relevanz. 

Man kann darüber natürlich verschiedener Anschauung sein, aber die Frage ist eine andere: Ist es nicht ein Kategoriefehler, gute Religion gleichzusetzen mit nützlicher Religion? 

Diese Gedanken rücken das, was jenseits aller Vernunft liegend anzusehen ist in den Fokus pragmatischer Vernunft.

Religion wird so präsentiert wie ein Nahrungsergänzungsmittel, wie ein Wellness-Angebot, um sich dabei besser zu fühlen oder wie ein sozialpolitischer Reformvorschlag. 

Man schreibt ihr wünschenswerte psychische und soziale Funktionen zu und belegt dadurch ihre Existenzberechtigung. 

 

Gottes Transzendenz

In dem Roman „Das Gottesprogramm“ belustigt sich ein Theologe über einen Physiker, der es sich in den Kopf gesetzt hat, die Existenz Gottes mit Hilfe des Computers zu beweisen. Die Idee, Gott als kreischenden Kobold hinter der Schultafel hervorzuzerren, sei zum Lachen. Man kann Gott für möglich halten, man kann an ihn glauben, aber er ist unerreichbar. Kein angeblicher Gottesbeweis, keine heilige Schrift, kein Erweckungserlebnis gibt auch nur den leisesten Fingerzeig. Aber einen Gegenbeweis gibt es auch nicht. 

 

Gute Religion weiss, dass Religion logisch und empirisch nicht zu fassen ist. Manche Zeitgenossen leiten aus dieser Unfassbarkeit Gottes die höhnische Negation der Religion ab. 

Gute Modernität ist reflektiert genug, ihre eigene Begrenztheit anzuerkennen; schlechte Modernität ist so naiv, ihren Denkhorizont für alles zu halten. 

Wissen ist immer voläufig, auch wenn es sich auf Gottes Offenbarung beruft, denn die Tradierung jeder Offenbarung zeigt Weiterentwicklung und empirisch überprüfbar auch Irrtum. 

Dummheit ist die Dumpfheit und Unwilligkeit, grössere Zusammenhänge wahrzunehmen, zu erkennen und entsprechend zu handeln. Dummheit ist nicht intellektueller Mangel, sondern die bornierte Beschränktheit des Besserwissens, das Feheln von Neugierde gegenüber dem noch nie Dagewesenen. 

Egozentrik ist das – meist angstgesteuerte – Haften am eigenen Ich, das sich abgrenzt, um bestehen zu können. Nach einem solchen Muster können sich Religionen im Zeitalter gegenseitiger Durchdringung nicht mehr legitimieren.

Ich-Abgrenzung ist ein Teil der psychischen Entwicklung jedes Menschen – in der frühen Kindheit. Doch dabei stehenzubleiben bedeutet geistige und soziale Erstarrung. 

Trägheit ist das Festhalten am Gewohnten, eine Starrheit, in der man denkt, fühlt und handelt, weil man das immer schon so gemacht hat. Dummheit, Egozentrik und Trägheit sind ein Mangel an Weisheit. Gute Religion strebt danach, diesen Mangel zu thematisieren und zu überwinden. 

Ein Dialog ist abhängig davon, dass sich die Partner gegenseitig als Quellen von Erkenntnis betrachten. Blosse Toleranz im Sinne des gleichgültigen Geltenlassens genügt nicht. Man muss sich auf die Andersartigkeit des Anderen einlassen können und die Würde der anderen Glaubensansicht nicht nur in ihrer Ähnlichkeit mit der eigenen, sondern gerade in seiner Andersartigkeit schätzen lernen. 

Voraussetzung für einen wirklichen Dialog ist es, dass man es für möglich hält, dass der andere in seiner Religion zum Heil, zum Ziel gelangen kann. Diese prinzipielle Voraussetzung besagt nicht, dass nicht um die Wahrheit diskutiert und gestritten werden darf. Wo man einander ernst nimmt, schuldet man einander auch Wahrhaftigkeit. Das Leben ist komplex, Einsichten sind es auch. 

Gute Religion kann das Vorläufige aller menschlichen Erkenntnis ertragen und vermag mit Gelassenheit Fragen stellen und zu zuhören. Das ist möglich, weil in der echten religiösen Erfahrung des Aufgehobenseins der Zwang zur Ich-Stabilisierung aufhört und die Identitätsgewissheit erfahren wird. In dieser religiösen Erfahrung weckt die Andersartigkeit des Anderen nicht Abwehmechanismen, sondern bereichert das eigene Gottesbild, das immer als vorläufig und nie abgeschlossen verstanden wird.

 

Ambivalente Religion

Sozialwissenschafter beurteilen Religionen gern nach ihrem Nutzen für die gesellschaftliche Integration. Sie preisen die Vereinigungskraft der Religionen, eine Konkurrenzgesellschaft atomisch vereinzelter Egozentriker in eine Gemeinschaft geschwisterlich liebvoller Gotteskinder zu verwandeln. Auch wird die moralische Kraft religiösen Glaubens hervorgehoben, die Universalwerte zu begründen und so der grassierenden Werteerosion Verbindlichkeit entgegen zu halten vermag. 

Aus der religiösen Binnenperspektive ergibt sich ein kritischeres Bild, nämlich die Ambivalenz aller Religiosität. 

Gottesglaube kann Humanisierung durch reflektierte Selbstbegrenzung der Frommen fördern. Er kann aber auch zu egomanischer Selbstvergöttlichung führen und in unbedingten Herrschaftswillen oder fanatische Verabsolutierung der eigenen Gottes – und Weltsicht umschlagen. 

 

Dies gilt für alle religiösen Überlieferungen. Allerdings unterscheiden sich die Religionen auch darin, wie sie das Gefärdungspotenzial thematisieren. 

 

Die Güte einer Religion hängt im Kern vom Gottesbild ab. Wird Gott als allmächtig autoritärer Weltherrscher , als eigersüchtig grausames Willkürsubjekt oder Seinsgeborgenheit bietender liebevoller Vater verstanden. Wie offenbart er sich und welche Art der Verehrung wünscht er sich?

 

Fordert Gott blinde knechtische Observanz, gebietet er harte Askese und Verzicht auf die Freude, oder entlässt er den Menschen in verantwortliche, endliche Freiheit? Hat Gott soviel Vertrauen zum Menschen, dass er ihm auch die Freieheit zugesteht? Macht Gott Angst oder stärkt er gegen alle Negativitätserfahrungen endlichen Lebens das innerste Urvertrauen, dass die Welt als Schöpfung Gottes in ihren Grundstrukturen verlässlich und eingebettet in seine liebliche Führung ist?

In diesem „Sich-Verlassen-Können“ auf Gott kann die Seele souveräne Distanz zur gegebenen Welt gewinnen, alle innerweltlichen Bindungen relativieren und die Fixierung auf die Ego-Rolle durchbrechen. Im gelingenden Fall fördert der Glaube Reflexivität und nachdenklichen Abstand zur eigenen Unmittelbarkeit. 

 

In der einzigartigen Intimität der Bindung an Gott liegt aber auch der verführerische Reiz, sich mit dem Absoluten gleichzuschalten und sich gegen die Übermacht des Bösen als exklusiv auserwählter Vermittler von Gottes Willen zu inszenieren. 

Der Mensch ist aber nicht Gott und es tut ihm nicht gut, sich selbst zum Gott zu machen. In der klassischen christlichen Theologie galt nicht nur „amor sui“, die Selbstliebe, sondern auch die „superbia“, die eitle Selbstüberschätzung – bis hin zur Gottesähnlichkeit – als Sünde. 

 

Gut ist Religion, wenn sie dem Menschen hilft, die vielfältigen, chaotisch widersprüchlichen Erfahrungen des Lebens und heterogene Rollenzumutungen zu einem konsistenten Lebensentwurf zusammenzufügen. Das bedeutet, die Religion zerreisst einen nicht (na buddhi-bhedam Bhagavad gita 3.26).

Gute Religion befördert die Einsicht, dass freie Vernunftswesen sich verfehlen, wenn sie Freiheit als Selbstentgrenzung (Hemmungslosigkeit), Wille als grenzenloses „Haben-müssen“ und Glück als die Befriedigung der Konsummöglichkeiten missverstehen.

Zur Abwehr solcher Fehldeutungen der Menschlichkeit des Menschen bedürfen religiöse Verbände und Gruppen einer kritischen Dauerreflektion. Gut ist und bleibt eine Religion, wenn sie sich immer wieder neu in Frage stellen und die in ihr immanenten Perversionspotenziale analysieren lässt.