Das Ende ruft….

 

Zeit hinauszögern

 

In einer Zen-Geschichte fragt der Schüler den Meister: „Was ist der Unterschied zwischen einem Erleuchteten und einem gewöhnlichen Menschen?“ –Der Meister weiss, dass er stirbt.

Wer diesen Koan tief erkennt, weiss, was es bedeutet, angesichts des Todes zu leben. Der Tod ist der Moment, in dem es keine Zukunft mehr gibt. Der weise Mensch lebt in jedem Moment angesichts dieser Vergänglichkeit, im Anerkennen der provisorischen Natur all dessen, was einen umgibt.

Es ist paradox, dass erst in dieser Gleich-Gültigkeit dem Leben und dem Tod gegenüber die vollkommene Fülle und die Tiefe des Lebens verfügbar wird. Wenn der Tod plötzlich und unvermittelt in die Nähe kommt, verspürt man eine unglaubliche Intensität, die alles Wühlen an der Oberfläche ausblendet. Es ist eine Tiefe des Erlebens, die in der Trivialität des Alltagsbewusstseins verloren geht.

 

Wir denken, wir hätten viel Zeit. Doch in Wirklichkeit haben wir keine Zeit. Alle sprechen von einer Welt, welche sich immer schneller dreht, immer ruheloser, ungestümer und übereilt wird. Und dennoch hängen wir paradoxerweise an einer Einstellung, noch sehr viel Zeit zu haben bis zum Tod, bis zur endgültigen Ernsthaftigkeit. Bis hin zur Hinwendung zum effektiven Leben, hin zur Hingabe zu Radha-Krishna.

 

Immer sind wir am Hinauszögern. Wie lange noch?

Wir haben keine Zeit. 

Wenn ich einmal eine Chance bekomme, muss ich sie nützen. Wer weiss, ob ich noch einmal eine Chance bekomme. 

Ein Sadhu sagte mir als junger Student einmal: 

„Das ist deine Chance. Vielleicht kommt sie nie wieder. Du musst sie ergreifen.“

In diesem Bewusstsein der einen Chance lag eine Haltung von Radikalität und das Wissen, das nichts im gesamten Universum wichtiger ist als das, als diese Chance zu nützen.

Ich hatte die Chance nicht gesehen. Kein normaler Mensch sieht diese Chance zu vollkommener Befreiung, weil sie in der Beschränkung des denkenden Geistes gar nicht existiert. 

Der Gedanke „ich bin bereit, für die Freiheit alles zu geben“ ist der seltenste aller Gedanken.

 

Willst du auf dem Sterbebett liegen, das Leben Revue passieren lassen und alle verpassten Chancen tauchen vor deinem inneren Auge auf? Dann die Reue und die Schuld....

Die Schuld, nicht wirklich gelebt zu haben, so viele Hinweise geschenkt bekommen zu haben und dennoch so indifferent gegenüber Krishna geblieben zu sein. Wir alle kennen den weisen Vers aus dem Mahabharata, der vom Verstand, der sich im zeitweiligen platziert und niedergelassen hat, nicht verstanden werden kann.

 

„Lebe jeden Moment mit dieser vollkommenen Intensität, als sei er dein letzter.“

Und in Wahrheit auch nachzufühlen: es ist mein letzter.

 

Denn jeder Moment, von dem man glaubt, dass er noch kommen wird, existiert nur im Verstand, in irrealen Hoffnungen, deren Inkongruenz mit den Umständen der Welt als Leid wahrgenommen wird. Die Wahrheit ist, dass der Tod in diesem Moment ist und nicht in der Zukunft. Deshalb möchte ich mich diesem einen Moment zuwenden. Ganz, und ohne die Geschichte zu verleugnen. 

In diesem Moment findet vollständige Berührung statt. Und die ist es genau, vor der der Verstand davonläuft, weil er annimmt, die Intensität dieser vollkommenen, nackten Berührung nicht auszuhalten. Dann schafft er sich die Flucht: die Zeit.

 

 

 

Begegnung mit dem Tod

 

Absolute Sicherheit ist ein Aberglaube. Sie wird weder von der Natur noch von irgendeiner Kultur geboten. Letzten Endes ist es genauso gefährlich, der Gefahr auszuweichen, als sich ihr auszusetzen. Das Leben ist entweder ein gewagtes Abenteuer oder nichts.

Bevor die Menschen dem Tod begegnen sind alle arrogant. Man eignet sich Dinge an, die einem nicht gehören und sammelt Wissen um einen, das nichts mit einem zu tun hat. Arroganz ist die Identifikation mit geistigen und materiellen Besitztümern und auch das Resultat des Ausweichens der grundlegenden Angst zu sterben, ausgelöscht zu werden. Angst ist ein Schutz vor der Begegnung, die dann aber dennoch unvermeidbar geschieht. Im Menschenleben ist die Konfrontation mit Wahrheit unabwendbar. Man bräuchte eine riesige Anstrengung, den Anspruch Gottes zu unterdrücken.

 

Menschen denken, wenn sie einen toten Körper sehen, was ja schon zu einer Rarität geworden ist, dies sei bereits Begegnung mit dem Tod. Es geht aber nicht um die Begegnung mit toten Körpern, sondern mit dem Tod selbst. Der Tod als Eintritt in ein unvergängliches, ewiges Bewusstsein, das keinen Anfang und kein Ende kennt. Die Gewahrwerdung der Seele. 

 

Wir brauchen auch die Gnade, dass die Erfahrung nicht von vorübergehender Natur bleibt, sondern eine unauslöschbare Erkenntnis wird. Jeder Mensch, der an Freiheit glaubt, und in sich den tiefen und aufrichtigen Wunsch nach ihr verspürt, kommt nicht an dieser bewussten Begegnung vorbei. 

In der Ausgrenzung des Todes fängt die falsche Ich-Identität an aufzuleben, zu wuchern wie ein Krebsgeschwür, und sich für das ewige Leben selbst zu halten. Die Arroganz, an der die westliche Gesellschaft krankt, ist im Wesentlichen genau darauf zurückzuführen, dass es ein tiefes Unwissen und gleichzeitig eine Respektlosigkeit gegenüber dem Tod gibt. Panische Angst hat das kleine Ich vor dieser Begegnung und gleichzeitig verachtet es ihn, verleugnet ihn und hebt sich so über ihn. 

 

 

 

 

 

 

 

Das Wagnis wagen

 

Das Ich stirbt in der Realität, die es sich geschaffen hatte. Es stirbt nur als getrenntes Wesen, das sich zu etwas anderem gemacht hatte, als das Leben selbst.

 

Der Tod bedeutet nicht einfach nur das erneute Ablegen eines physischen Leibes. Es bedeutet der bewusste Eintritt in eine Wandlung, die geschieht, wenn ein Mensch bereit ist, für diesen einen Moment alles aufzugeben, an keiner Gewohnheit festzuhalten, und sich vollkommen Radha-Krishna anzuvertrauen.

 

Im Tod geht es darum, die Ausgrenzung zu beenden. Man  erfährt paradoxerweise erst in der unmittelbaren Begegnung mit dem Tod, was Leben wirklich ist.

 

Dieser Tod des Ichs ist das, wovor wir am meisten Angst haben und wonach wir uns gleichzeitig am meisten sehnen. Es ist unbegreiflich, dass wir vor dem am meisten Angst haben, was uns glücklich macht. 

Es ist immer wieder die Angst, die uns zurückweichen lässt vor dieser totalen Begegnung, der völligen Hingabe an Radha-Krishna. Sie liegt ausserhalb der Kontrolle des denkenden Verstandes. 

Das Erstaunliche ist, dass der Verstand tatsächlich jeden Moment unter seiner Kontrolle zu haben meint – ausser diesem. Und dieser ist der, der in seiner vollkommenen Dimension und seinem unendlichen Ausmass übersehen wird. In diesem einen einzigen Moment wird nichts verloren, sondern alles gewonnen.

 

Im Grössenwahn seiner eigenen Unsterblichkeit ist dem kleinen Ich, das an der Welt festhalten will, Frieden verwehrt. Doch angesichts des Todes verschwinden alle Sorgen, aller Kummer und alles, was die eigene Gefangenheit ausmacht. Es ist der einzige Moment von Wesentlichkeit. Aber man muss ihn konfrontieren und aushalten können, ohne nur das geringste Ausweichmanöver.

 

 

 

 

 

 

Vor dem Tod sterben

 

Stirb bevor du stirbst. Aber dies soll nicht wieder zu einem Konzept werden, sondern zu einer unzweifelsfreien Erfahrung. 

In einer ersten Phase geschieht die Abkehr von der Welt. Aber die Welt und das Menschsein kehrt zurück und setzt sich wieder neu zusammen. Das fordert die konstante Wachsamkeit, alles Erlernte und Angehäufte, womit man sich identifiziert, wieder zu zerstören. Nur so kann die eigentliche Menschwerdung, die bewusste Inkarnation geschehen. 

Die Wunde im Menschen, welche durch die Ausblendung und Verdrängung des Todes generiert wird, wird mit Phantasien über den Tod überpflastert. Das ist es, was das Ich immer dann tut, wenn es mit seinem Latein am Ende ist, wenn es in Gefahr läuft, sich seine hilflose Unwissenheit eingestehen zu müssen. 

Das Loch wird mit Einbildungen, Meinungen, Konzepten und vor allem mit Hoffnungen gefüllt, über welche man meistens nicht einmal bewusst ist, sondern welche als unbewusste Schatten in uns agieren. In diesen Bildern, die tief in die menschliche Geschichte zurückreichen, ist der Tod zu einem Gegenspieler des Lebens, zu einem Feind der Lebendigkeit ernannt worden – anstatt zu einem Verbündeten. 

Es ist dieses bewusste Annehmen des Endes, das uns den Respekt und die Ehrfurcht vor dem Grossen wieder  lehren könnte. Natürlich glauben wir zu wissen, dass wir sterben. Aber in Wirklichkeit lehnen wir es ab. Das jämmerliche Daseins des Dagegenstämmens gegen das Unvermeidliche nennen wir dann „Leben“. 

Alles, was wir vom Tod wissen, ist lediglich eine Ansammlung von Bildern, die wir zum Teil aus dem religiösen Kollektiv, zum Teil von anderen Lehrern der Vergangenheit wie Eltern usw. übernommen haben. Und zum Teil sind sie eben das Produkt unserer Phantasie, unserer Ängste, unseres Festhaltens am Leben.

Wenn der Mensch frei ist von jeglicher Selbstplatzierung innerhalb des Vergänglichen, sogar frei vom Wunsch, überhaupt zu überleben, dass ist ein Zustand inneren Friedens erreicht, der bleibt und der von den Schwierigkeiten des äusseren Lebens unberührt ist.

 

Der Weg des Verlustes

 

Der Weg in die Tiefen des eigenen Widerstandes, in die Befürchtungen hinein erfordert die Bereitschaft, zu verlieren, was man bereits glaubt, gewonnen zu haben. Viele Menschen, die begonnen haben, einen inneren Weg zu gehen, glauben immer noch, dass dieser Weg ein Weg ist, auf dem wir unsere innere Trophäensammlung erweitern können. Auf dem wir überhaupt irgend etwas dazugewinnen könnten, was wir noch nicht haben – Freiheit, Glück, Frieden, Stille. 

Es ist das Gegenteil: Es gilt alles zu verlieren.

Alles aufzugeben ohne einen Gegenwert? Dies ist schwer zu verstehen für den Geist. Denn der Verlust ist mit dem Schmerz des Abschiedes behaftet, mit dem Schmerz des Verlierens, und des Verlorenseins, des Verlustes der Identität, die ja gerade aus diesen Dingen geworden ist und an der wir festhalten und uns orientieren. Wir haben kein positives Verhältnis zum Moment des Verlustes. Wir haben den Wert dieses Momentes nie zu schätzen und lieben gelernt. 

So muss dieser Moment neu erkundet werden. Er bringt nichts als Entlastung mit sich. 

Wir sind wie Bettler, die an ihrem letzten Hemd festhalten, in Wirklichkeit aber in einem Königreich der Fülle stehen, das wir nicht erkennen können, weil wir so beschäftigt sind, um unser letztes Hemd zu kämpfen.

Erkenntisweg ist immer ein Weg des bewussten und ganz akzeptierten Verlierens. Ein Weg des Aufgebens und Nichts-dafür-Bekommens, kein Geld, kein Liebespartner, keine Macht und Anerkennung oder Ruhm. 

Und man bekommt etwas, was nicht mehr in Worte zu fassen ist – Svarupa-jnana, die ewige Form der Seele beginnt durchzuscheinen. 

Die Frage „wer wir sind“ ist die Antriebsfrage jeglicher menschlicher Suche; dieser Frage Raum zu geben ist der Zweck der Inkarnation in meinem menschlichen Körper. Denn was macht alles für einen Sinn, wenn man nicht weiss, wer man ist und wohin man eigentlich gehört.

 

 

Es ist eine Perspektive, die nicht eingenommen werden kann, solange ein Ich versucht, sie einzunehmen. Sondern nur im Tod des Ichs erfahrbar ist. Die Bereitschaft, alles zu verlieren ist nichts Äusserliches. Das wäre eine Verharmlosung. Kinder aufzugeben, Partner, Wohnort, sämtlichen Besitz, den Beruf und alle Sicherheiten – das ist noch nicht einmal der Vorhof von dem inneren Verlust, um den es wesentlich geht. Es ist der Verlust all dessen, was man als Ich kennt und als Ich angenommen hat. Das ist die alte Welt, die Menschen nicht bereit zu verlassen sind, weil sie den alten Lehrern der Angst und der Ungewissheit folgen – die Angst vor der unendlichen Leere, wenn dieses Ich nicht mehr ist.

 

Bereitschaft für das Ende

 

Das Leben eines normalen Menschen kann umschrieben werden als der Versuch, dieser Leere zu entkommen und sie immer wieder durch Beschäftigung, durch Emotionen, Gedanken, der Ausweichbewegungen unzähliger Stimulanzen, mit denen man sich ein Leben lang voll stopft, zu füllen. Das grosse Geschenk bleibt unbekannt verborgen währenddessen man sich mit kleinsten Trostfreuden zufrieden gibt.

Naiv glauben wir daran, das wir uns absichern könnten dass wir durch Anhäufung von spirituellem Wissen, durch das Erlangen von paranormalen Kräfen die Fähigkeit erlangen würden, uns vom menschlichen Leid abzusetzen und das Ich in ein Reich jenseits hineinzuretten. Das ist eine Form von Magie, mit der man das Alltagsbewusstsein scheinbar zu sprengen versucht. 

Aber es ist nur eine Technik, welche das Leiden verlängert und niemals die Grenzen des Ichs überwindet. Sie werden nur erweitert. 

Das Leben der Menschen ist der konstante Versuch, sich über Wasser zu halten, um nicht zu ertrinken. Darin wird die Energie investiert, die einem dann fehlt, dem Tod zu begegnen. 

Wenn der Tod – nicht das Sterben eines erneuten Fleischsackes – an die Türe klopft, soll er einfach willkommen geheissen werden wie ein Gast. Es ist ein Eintauchen in eine unendliche Stille. Jeder Kampf und jeder Krampf wird überflüssig, wenn ich nicht mehr davonlaufen muss. Von Angesicht zu Angesicht mit dem Tod in vollkommener Gegenwart mit dem Tod. Von da kann man das betrachten, was mein „sein Leben“ nennt. Die Arbeit, die Beziehung zu den Vorgesetzten, zum Partner, zu den Kindern, zur Familie. Den Kampf. Die Angst. Der Geltungsdrang. Das künstliche Aufblähen, die Inflation des Ichs, gefolgt von diesem niederschmetternden Zusammenfallen. Alles Leid ist Ausdruck dieses Einen Kampfes „jemand“ zu sein. Es ist der Kampf, sich an der Oberfläche halten zu müssen.

Ich habe nicht nur die Pflicht, physische Körper abzulegen, sondern auch das Recht, wirklich zu sterben und die Freiheit und die Freude dabei zu erfahren.

Das ist die totale Bereitschaft für das Ende. Die Achterbahn der Zeit, die Menschen für ihr Leben halten, ist der Traum, der beendet werden kann. 

 

 

 

Jedes Ich hält sich für einen kleinen Gott und versucht hinterherum, die Unendlichkeit, das ewige Sein, für sich zu gewinnen. Und während es dies probiert, beobachtet es in zunehmender Hilflosigkeit die Offensichtlichkeit des Verfalls dieses Organismus. Ein junger Mensch in der Blüte seines Egos hält sich zunächst für völlig unsterblich. Doch dann, wenn der Zahn der Zeit beginnt, seine Arbeit immer offensichtlicher zu tun, kann er irgendwann nicht mehr umhin, dem Verfall ins Auge zu sehen. Aber es gibt Menschen, die sterben, ohne dem Tod jemals ins Auge gesehen zu haben – wahrscheinlich die Mehrzahl. Der Tod kann nicht in „mein Leben“ Einzug halten. Er kann „mein Leben“ nur zerstören, damit es nicht mehr „mein Leben“ ist, sondern eben aufgebrochen wird für die Wirklichkeit Gottes. 

 

Menschen sind nicht bereit für das Ende. Aber die vollkommene Wandlung bedarf der eigenen Bereitschaft für das Ende. Völlige Diskontinuität mit keiner Idee von Weiterführung. Ablauf, Prozess, Fortschreiten, tieferes Werden – all dies ist Kontinuität. Die Zeit eines kleinen, getrennten persönlichen Lebens. Wir sind so interessiert an verschiedenen Zuständen, die sich wandeln und die wir erfahren können, so interessiert an diesem scheinbar kontinuierlich ablaufenden Film, dass man dabei völlig vergisst, wer man eigentlich ist, was wirklich ist, was immer ist, was ewig ist. Das ist der Moment der Begegnung mit dem echten Krishna.

Bereitschaft zum Ende bedingt Vertrauen zum Ende, dass nicht ich selber zu Ende bin, dass nicht die Svarupa zu Ende ist, sondern nur das, was man bisher für das Leben gehalten hat. Die Kontinuität der Zeit.