Die Präsenz des Todes

Der Schüler fragt den Zen-Meister: "Was ist der Unterschied zwischen einem Zen-Meister und einem gewöhnlichen Menschen?" Antwort des Zen-Meisters: "Der Zen-Meister weiß, daß er stirbt."

Wer diesen Koan tief erkennt, weiß, was es bedeutet, angesichts des Todes zu leben. Der Tod ist der Moment, in dem es keine Zukunft mehr gibt. Der weise Mann lebt jeden Moment angesichts dieses Todes, und es ist paradox, daß in dieser Gleich-Gültigkeit dem Leben und dem Tod gegenüber die Fülle des Lebens, die vollkommene Fülle des Lebens erst verfügbar wird, die vollkommene Tiefe des Lebens.

Ich denke, es ist spürbar für alle, dass, wenn der Tod plötzlich, unvermittelt, in unsere Nähe kommt, wir plötzlich eine unglaubliche Intensität verspüren, eine Tiefe des Erlebens, die in der Trivialität des Alltags-Bewußtseins verlorengeht.

Willst Du auf dem Sterbebett liegen so wie ein normaler Mensch, der das Leben Revue passieren läßt, und alle verpaßten Chancen tauchen vor seinem inneren Auge auf? Dann die Reue und die Schuld. Die Schuld nicht wirklich gelebt zu haben, nicht vollkommen gelebt zu haben. Wir alle kennen diesen Satz, der weise ist, aber der vom Verstand nicht erfaßt werden kann: Lebe jeden Moment, als sei er dein letzter. Lebe jeden Moment mit dieser vollkommenen Intensität, als sei es dein letzter. Nicht einmal als sei es dein letzter, in Wahrheit und Erkenntnis wissen wir, es ist unser letzter. Denn jeder Moment, von dem wir glauben daß er noch komme, existiert nur in unserer irrealen Hoffnung. Die Wahrheit ist, daß der Tod und das Ende in diesem Moment ist und nicht in der Zukunft, in der eingebildeten Zukunft. Wenn wir uns in dem Moment Radha Krishna zuwenden, dann ist das echte japa. In diesem Moment findet vollkommene Berührung statt, und die ist es eben, vor der der Verstand wegläuft. Er schafft sich die Zeit, weil er glaubt, die Intensität dieser vollkommenen nackten Berührung nicht aushalten zu können.


Die Begegnung mit dem Tod ist eine Begegnung, die absolut essentiell ist für jeden Menschen. Damit ist nicht das Anschauen eines toten Körpers gemeint, sondern die Begegnung mit dem Tod selbst. Dem Tod als dem Eintritt in ein unvergängliches, ewiges Bewußtsein, das keinen Anfang und kein Ende kennt.

Der innere Tod, das auflösen von geglaubter Identität ist eine sehr radikale Erfahrung. Die stärkste Bindung an meine eigene kleine Vergangenheit, nämlich die Erinnerungen sind dann nicht mehr Ketten, die mich an diese romanitisierte Scheinwirklichkeit festbinden, sondern nur noch Bilder, Gefühle, Empfindungen - aber ohne eine Person, ohne ein "Ich" mehr, die sie empfindet. Ein solcher Bruch kann sich ereignen durch intensive japa, aber wir haben die Tendenz, diesen Riss ganz schnell wieder zubetonieren zu wollen. Das ist der Moment wo wir die Gnade einer spirituellen Führung bedürfen, die verhindert, dass diese Erfahrung dann nur wieder von vorübergehender Natur ist. Dann bleibt es nicht einfach nur wieder eine Erfahrung mehr, sondern wird zu bleibender Einsicht über die Natur dessen, was ich BIN.
Im Laufe der Zeit hat sich in mir das Verständnis vertieft, daß kein Mensch, der einen tiefen und aufrichtigen Wunsch nach Freiheit in sich verspürt - an dieser Begegnung mit dem Tod vorbeikommt. Meister aller Generationen haben immer wieder den Satz gesprochen: "Stirb bevor du stirbst." Dies ist kein theoretisches Konzept, sondern Ausdruck einer unzweifelhaften Erfahrung.

So ist der spirituelle Weg und die Begleitung auf dem Weg tatsächlich eine Begleitung in den Tod, und in die Widerstände gegen den Tod und in die Arroganz und in die Befürchtungen, die der Geist zunächst vor den Tod gestellt hat. Es braucht die Bereitschaft, zu verlieren, was wir glauben bereits gewonnen zu haben. Wir haben kein wirklich positives Verhältnis zu einem Moment des Verlustes. Wir haben den Wert des Verlustes nicht gelernt, so daß wir diesen Wert innerlich erst neu erfahren müssen, die Öffnung, die Befreiung, und im wahrsten Sinne des Wortes die Ent-Lastung erfahren müssen, die innerer Verlust von Verhaftung, von Bindung, von Identifikation mit sich bringt.

Wir sind wie Bettler, die an ihrem letzten Hemd festhalten, obwohl wir in Wahrheit in einem Königreich der Fülle stehen, einer Fülle, die wir nicht erkennen können, weil wir so beschäftigt sind, um unser letztes Hemd zu kämpfen. Der Weg in den Tod ist der Weg des Verlierens, es ist der Weg des Aufgebens und Nichts-dafür-Bekommens. Aber man könnte auch sagen: Wir bekommen alles, all das, was wir uns wünschten, aber nicht in Worte fassen konnten - Saksat Darshan zu Sri Sri Radha Govinda. Es ist eine endgültige innere Erfahrung, die das, was wir unser Leben nannten, vollkommen verändern wird. Der Tod verändert alles, was wir jemals erfahren haben.

Absolute innere Freiheit kann nur durch den Tod gegangen sein, und dieser Tod läßt nichts und niemanden aus. Können wir das schätzen? Daß der Tod eine Kraft ist, die so endgültig ist, die so mächtig ist, daß sie nichts ausläßt? Nichts in der relativen Welt entkommt ihr, ihr entgeht gar nichts. Die Endgültigkeit des Todes erlaubt nicht, daß Spuren hinterlassen werden, Spuren von Unfreiheit, Spuren von Gebundenheit, die wir in unserer Geschichte hinterlassen haben. Der Tod ist ein radikaler Moment, ein absoluter Moment, ein endgültiger Moment. Wir können uns dieser Endgültigkeit annähern, wenn wir beginnen zu ahnen, was die Realität von Radha Govinda überhaupt bedeuten könnte für uns.