Leiden

Leiden ist nicht das, was ich bisher für Leiden gehalten habe.
Das Leiden gibt sich nicht offen als Leiden zu erkennen. Die meisten Menschen glauben. Leiden bedeutet, dass der Körper oder die Psyche krank ist. Wenn sie wieder funktionieren, dann denken sie, das Leiden sei angeblich wieder vorbei.
Dann gibt es alle möglichen Techniken und Ablenkungen, um das Leiden auszublenden, Vergnügungen zu suchen, und irgend etwas zu tun, damit das Leiden nicht offensichtlich ist.
Leiden ist die Beziehung zum Ich-Gedanken. Ständig nehme ich Gedanken wahr, die mit den drei Buchstaben I C H beginnen.
Diese sind die Gedanken, die ich nicht mehr wahrnehme, sondern zu denen ich werde, wenn sie auftauchen.
Aus diesen Gedanken entstehen dann Gefühle und Empfindungen, und ich werde zu ihnen, aus ihnen geformt. sada tad bhava bhavitah (BG 8.6)

Es ist doch so, dass das Bewusstsein von Leid bisher immer erst dann entstanden ist, wenn etwas nicht nach meinen Vorstellungen verlief.
Jahrelang geht es mir gut. Ich habe einen wunderbaren Partner, beruflich mache ich Fortschritte, mit meiner Familie verstehe ich mich bestens, ich verdiene genug Geld und ich finde ohne Probleme durch positives Denken eine Wohnung. Es scheint keinen Grund zum Leiden zu geben.
Irgendwann bemerke ich eine gewisse Leere. Vielleicht muss ich meine Affirmationen intensivieren? Aber der Moment kommt, in dem ich ahne, dass etwas viel grundlegender nicht stimmt. Aber die meisten Menschen brauchen dafür nicht Jahre, sondern Jahrtausende. Jahrtausende für die einfache Erkenntnis, dass ich leide.

Es ist nun aber nicht so, dass sich mir der Wunsch zu leiden als Wunsch zu Leiden zeigt. Er erscheint mir als Wunsch, glücklich zu sein. Aber ich erkenne die Verkleidung nicht.
Zum Beispiel kann er sich zeigen als der Wunsch, auszuwandern, oder als der unerfüllte Wunsch nach einem Kind oder einem angeblichen Seelen-Partner. Jeder unerfüllte Wunsch, der sich auf Vergängliches richtet, kann aber nicht mein wirklicher Wunsch sein. Wie kann ich also davon ausgehen, dass der Wunsch erfüllt wird, wenn das Ergebnis doch zwangsläufig ein Verlust ist?

Das Leiden ist ein Mechanismus, der nur dadurch funktioniert, dass das Leiden in Verkleidung von Wohlsein und momentaner Annehmlichkeit auftritt. Wenn Leiden nackt als Leiden vor mir stehen würde, gäbe es für das Leiden gar keine Möglichkeit fortzubestehen. Es wird nur dadurch aufrechterhalten, dass es in allen möglichen Verkleidungen vor mir auftritt und ich diese für echt halte und die Versprechungen, die diese Verkleidungen tragen, immer wieder abkaufe.
Mal ist es ein neuer Partner, mal neue Güter.. Immer ist es irgend etwas, das mich wieder hoffen lässt.
Kaum besteht die Gefahr, dass das Leiden über mich hereinbricht, kommt so etwas wie ein Rettungsanker: Hoffnung (auf Erfüllung innerhalb dieser Welt) und Leiden sind unzertrennlich.
na socati na kansati (BG 18.54)

Dieser Moment ist nie ein Hervorrufen von Leid, sondern lediglich dessen Entblössen. Es rüttelt mich aus der Täuschung wach, dass ich vorher nicht gelitten habe. Es war die grösste Illusion, der ich mich hingegeben habe - unzählige Leben lang. Leiden ist eine Kette von Leiden und Freuden.

Die nicht vorhandene Leidenserkenntnis war viel schlimmer als alles Leiden selber. Speziell in unserer westlichen Welt, wo der Traum einen solchen Grad an Wohlstand und Befriedigung der Überlebensinstinkte erreicht hat, ist es noch viel gefährlicher, denn die Täuschung, dass ich nicht leide, wirkt viel stärker. Die vollkommene Leidenserkenntnis ist bereits der erste Schritt in die Glückseligkeit, denn aus ihr erwächst die Sehnsucht nach Freiheit.

Was ist meine wirkliche Priorität? Unwesentliches wird als Priorität vorgeschoben, so dass der Geist nicht bereit ist, um Befreiung zu kämpfen.

Ab diesem Punkt steht mir eine Gnade zur Verfügung: mein Geburtsrecht, mich davon zu befreien.
Diese Gnade stand immer zur Verfügung, aber ich wollte sie nicht.

Würde ich mich wirklich mit irgendwelchen Konzepten und Lebensvorstellungen identifizieren, die offensichtlich in letzter Instanz Leiden hervorbringen, wenn diese nicht eine Versprechung für mich beinhalten würden?
Wenn es mir nicht eine Form von scheinbarem Glück versprechen würde, wäre ich doch nicht so verrückt, mich auf dieses Wagnis einzulassen, in einer fremden Welt irgendwelche Identifikationen anzunehmen.
Mein weltlicher Geist tut nichts, ohne dafür auch etwas zurückzubekommen.
Das heisst: Wie nachteilig die Folgen für mich auch sind, ich muss daran glauben, etwas zu erhalten, wofür ich Leid in Kauf nehme.
Sonst wäre ich doch nicht freiwillig bereit, mich mit etwas zu identifizieren, mit dem ich in Wahrheit gar nichts zu tun habe.

Was ist das?

Wie kann es in mir einen Widerstand dagegen geben, das Leiden aufzugeben?
Die Gewohnheit. Wir sind oft keine überzeugten Gottesgegner mehr, sondern nur noch angewöhnte. Das neue würde uns zu sehr herausfordern.
Das eigentliche Mysterium ist die Kraft, die mich davon abhält, mich Krishna zu öffnen, jetzt ganz bei Ihm zu sein. (kim ascaryam atah param)

Lieber Krishna,
Die Abwehr von der völligen Hingabe zu Dir erkenne ich wieder als meine subtilste Form von Masochismus. Sie sucht immer wieder das Vergnügen (nicht die Freude) in einer Illusion. Und diese Illusion beginne ich zu durchschauen, wenn ich ganz bewusst in mir die Angst wahrnehme, sie zu verlieren. Dann werde ich sie sehen (was bedeutet, dass es keine Illusion mehr ist) Ich nehme wahr, dass ich Zugang habe zu dieser Angst, alles zu verlieren. Und wenn ich alles verliere - und das werde ich - was dann bleibt, ist das, was auch jetzt ist. Die Liebesbeziehung mit Dir.