Orpheus und Eurydike

Orpheus und Eurydike

 

Orpheus, Sohn der Muse Kalliope und des Gottes Apollon, war ein so begnadeter Musiker, dass er mit seinem Leierspiel die ganze Natur anrührte und verzauberte. Nach seiner Hochzeit mit der Nymphe Eurydike traf ihn das Unglück, dass die Neuvermählte von einem Schlangenbiss getötet wurde. Orpheus war untröstlich. In seiner Verzweiflung tat er etwas, was noch nie jemand vor ihm versuchte. Er stieg in die Unterwelt hinab.

Von seinen Klagen gerührt setzte ihn der Fährmann Charon über den Styx in die Totenwelt.  Zerberus, den Wachhund am Eingang des Hades bezauberte Orpheus mit seiner Musik. Hades und seine Frau Persephone, die Götter des Totenreiches, erlaubten ihm, die Verlorene aus der Unterwelt zurückzuholen und wieder in die Oberwelt zu bringen.

Bedingung war, dass sich Orpheus bei ihrem Hinaufsteigen nicht nach Eurydike umschaut, bis sie das irdische Sonnenlicht wieder erblicken.

 

Die unerbittliche Ordnung des Totenreichs wird außer Kraft gesetzt

Ovid schreibt dazu: "Tantalus griff nicht nach der fliehenden Welle, staunend stand Ixions Rad still, ...., Sisyphus, saßest auf deinem Stein (X, 41-44).

 

Durch Nebel und Totenstille führte der Pfad bergan dem Sonnenlicht entgegen. Geführt von Hermes, dem Mittlergott zwischen den Welten, folgt Eurydike dem Orpheus in aller Stille nach, auf dem langen Weg zurück ins Erden-Leben. Doch dann, kurz vor dem Ziel geschah das Unwiderrufliche: 

Besorgt, sie könne ermatten, und begierig, sie zu sehen, wandte Orpheus voll Liebe den Blick, und in diesem Augenblick glitt sie zurück und war für immer verloren. Entsetzt und zutiefst traurig über den erneuten Verlust der geliebten Frau zog sich Orpheus in die Wildnis zurück. Von der Welt und besonders von den Frauen wandte er sich ab, um nur noch für die Steine, Bäume und wilden Tiere zu spielen.

 

Zu seinem Leiden über den Verlust kam die Schuld, die Prüfung nicht bestanden zu haben.

Orpheus hat also durch die Macht seines Gesanges die ehernen Gesetze der Unterwelt durchbrochen. Orpheus scheitert nicht an der Verweigerung der Götter, sondern an sich selbst. An der Unvollkommenheit und Schwäche des Menschen.

 

Der Verführbarkeit, die manchmal auch von den Schattenkräften induziert sein kann (Goebbels, Mephisto ...) lässt den Menschen schwach bleiben und zurückschauen. Das lässt ihn die angebotenen Chancen verstreichen.

Das, was man aus der Totenwelt heraus zu holen gedenkt, die Eurydike, verliert man eben, wenn der Blick wieder zurück gerichtet wird. Nostalgie ist der Feind des inneren Lebens.

Beide müssen in eine Richtung schauen. Orpheus darf den Blick nicht zurück in das Schattenreich des Todes wenden und die Orientierung am Licht der oberen Welt, letztlich dem Göttlichen, nicht verlieren. Dies wäre die Möglichkeit, sich aus dem Griff der Vergänglichkeit zu befreien.

 

Eindrucksvoll beschreibt Rilke noch eine andere Dimension dieses Mythos.
Rainer Maria Rilke: Orpheus. Eurydike. Hermes (1904)
...
Sie war schon nicht mehr diese blonde Frau,
die in des Dichters Liedern manchmal anklang,
nicht mehr des breiten Bettes Duft und Eiland
und jenes Mannes Eigentum nicht mehr.
Sie war schon aufgelöst wie langes Haar
und hingegeben wie gefallner Regen 
und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat.
Sie war schon Wurzel.
Und als plötzlich jäh
der Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausruf 
die Worte sprach: Er hat sich umgewendet -,
begriff sie nichts und sagte leise: Wer?
...

Gemäss Rilke war Eurydike schon zu erfüllt war von ihrem „Gestorbensein“ und hatte den Bezug zur Welt der Lebenden sowieso bereits verloren. Und das war es, was Orpheus spürte, sodass er verunsichert zurückschaute. Wenn man einmal in der Umarmung des Todes war, wird einem die vergängliche Welt mit ihrer starken Faszination für die Verliebtheits-Geschichten, richtiggehend fremd. Eurydike hatte sich der alten Heimat entfremdet. Sie liess sich für das irdische Leben nicht mehr zurückgewinnen.

Auch im Tod, den man berührt, bevor man der Körper stirbt, wohnt der Unwiderruflichkeit inne. Man vermag von ihm nicht mehr zurückkehren in die seltsame Welt der menschlichen Rollenspiele. Die Todesnähe hat einem gelöst von den Kleingeschichten der Oberfläche.

Nicht die Ungeduld des Orpheus vereitelt das zurückverlangte Glück der Liebenden, sondern die völlige Entfremdung der Eurydike von der irdischen Liebe und vom irdischen Leben. Das ist die Gnade des Todes.