Wer stirbt?

 Materialismus als Folge der Todesverneinung

 Was ist Materialismus? Viele denken, dies bedeute, äussere Dinge anzuhäufen und ein Leben lang Geld und Güter zu jagen. Das ist nur die Oberfläche. Materialismus ist in Wirklichkeit die Identität mit dem physischen Körper, die sich dann ganz natürlicherweise ausbreitet auf die gesamte Sinneswelt.

 Um die Verhaftung in den Materialismus zu durchschauen, bedarf es einer tieferen Schau, eine Schau in unser Verhältnis zum eigenen Ende, dem Tod.

 So stark wie im Schatten Indiens die Lebensverachtung wohnt, so stark haust im Westen die Todesverachtung.

 Das Ich ist in einer Zwickmühle, die darin besteht, dass es diesen Körper einerseits als seinen Aufenthaltsort identifiziert und dass dieser Körper andererseits auch der Wohnort des Todes ist. Das Ich hat also einen Ort als seine Heimat gewählt, der gleichzeitig und unwiderruflich der Wohnort des Todes ist. Materialismus ist die Folge dieser Todesverachtung. Der Geist versucht, über die Sinne Substanz zu erschaffen, um dieser Situation zu entkommen. Uns so wird die Materie zu einer Kompenstions-substanz, die Realität und Todesabwesenheit vortäuscht – also Ewigkeit zu imitieren versucht.

 

Es gibt in uns drin einen Ort, an dem wir um diese Lüge wissen. Dass Materie und die Freude im Umgang mit ihr keine wahre Substanz hat, haben alle schon einmal erfahren, aber man leugnet die absolute Konsequenz dieser Erfahrung in dem Versuch, weiterhin an der Oberfläche genährt zu werden. Es ist ein Griff nach Identität im Äusseren, da man im innersten Kern des eigenen Selbst nicht an die Ewigkeit der Seele glaubt. So braucht man die Materie als eine künstliche Kompensation von Identität.

 

Wenn man diese Greifbewegung wahrnimmt und die Anstrengung, die sie einen kostet über viele Leben lang kontinuierlich zu tun, erkennt man die grosse Mühe, die die Inszenierung, die die Ich-Inszenierung an der Oberfläche, benötigt.

 

 Ausweichen vor dem Tod

 

Überleben zu wollen heist nichts anderes, als vor dem Tod davonzulaufen. Und damit verbringt man Lebzeiten. Für viele bedeutet Leben nichts anderes, als dem Tod zu entkommen, der tragischen Tatsache zu entgehen, dass der Körper von dem Augenblick an stirbt, in dem er geboren worden ist. Der Irrglaube, den Körper zu sein, bringt einen dazu, in den aussichtslosen Kampf mit dem Tod zu treten. Angesichts des Todes kann die Unwahrheit nicht existieren. Die Nichtbereitschaft für die Wahrheit führt zur Ignorierung des Todes. Dem Tod ins Auge zu sehen ist der Moment der Entlarvung von allem Unwesentlichen.

 

Wir versuchen, uns horizontal in Bewegung zu halten, damit wir nicht in die Tiefe fallen. Aber paradoxerweise suchen wir genau diesen tiefen Frieden der Tiefe und vermeiden ihn  gleichzeitig mit aller Kraft. Darin besteht das absurde Schaffen des Geistes.

 

 Dem Tod ins Gesicht schauen

 Was heisst es, dem Tode ins Auge zu schauen? Es ist die Vergegenwärtigung über den eigenen Überlebenskampf. Es bedeutet nicht, überlieferte Vorstellungen des Todes abzurufen. Es heisst einfach wahrzunehmen, wieviel Kraft man in den körperlichen, emotionalen oder geistigen Kampf steckt, und sich zu fragen, ob man bereit ist, diesen Überlebenskampf aufzugeben und diese ständige Anstrengung, die einen der Glaube, überleben zu müssen, kostet.

 Glaubt man, dass Leben auch ohne Überlebensverkrampfung möglich ist?

„Im Ewigen gibt es keinen Tod und im Vergänglichen kein Bestehen.“ (Bhagavad gita 2.16)

 Was versucht man nicht alles, um dieser Begegnung auszuweichen?

 

Das körperliche Leben verlängert sich immer mehr. Die einzige Aufgabe eines aufgeblähten medizinischen Aparates ist es, das Leben dieses Fleischsackes zu verlängern. Die Illusion der Todlosigkeit wird den Menschen immer plausibler gemacht. Alle Dinge, zu denen wir Abstand genommen haben, führen in unserer Psyche ein immer weniger kontrollierbares Eigenleben. Uns so haben wir immer ärgere und paranoidere Vorstellungen von dem, was der Tod für uns ist. Und je grotesker diese Vorstellungen, desto mehr Angst bekommt man vor diesen Vorstellungen. Je mehr Angst man von den eigenen Vorstellungen bekommt, desti mehr will man sich davon davon distanzieren und so nimmt ein Teufelskreis seinen Lauf.

 Dieser Teufelskreis ist ein Kreis in einem Geist, der sich weigert, anzuhalten und sich in Ruhe der Wirklichkeit zu stellen.

 

 Tod des Ich

 

Wirklicher Tod ist das Ende des Widerstandes, das Ende des Ich, eben sterben bevor man stirbt.

 Es reicht nicht zu warten, bis der Körper stirbt, um zu glauben, dass man dann frei von Begrenzung sei, frei von Sorgen und frei von Problemen. Niemals.

 Wenn der Körper stirbt, stirbt nicht die Ignoranz und nicht der denkende Geist. Sie sterben nur durch vollständige Erkenntnis der Svarupa und durch liebende Hingabe zu Krishna. bhaktya mam abhijananti (Bhagavad gita 18.55)

 Genau dies ist der eigentliche und auch einzige Sinn, der einzige Zweck dieses Lebens und alles andere ist Beiwerk. Und Menschen beschäftigen sich viele Leben lang nur mit dem Beiwerk und wollen nicht begreifen, worum sie effektiv hier sind – um aufzuwachen.

 Ob der Körper stirbt oder nicht, ist unwesentlich und es geht nicht um Sterbebegleitung des Körpers. Es geht um Sterbebegleitung für das Ich – und diese geschieht jetzt. Der Geist projiziert das Thema des Todes auf den Körper und glaubt, es ginge um die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit dem körperlichen Tod in der Zukunft. Aber eigentlich ist es völlig unwesentlich, wann der Körper stirbt, denn er stirbt sowieso und ein neuer wird geboren.

 

 Bereitschaft für das Ende

 Warum sind Menschen nicht bereit für das Ende?

 Man hat eine vollkommen irreale Angst vor dem Ende

 Bemerke, wie eine tiefe Entspannung einsetzt, wenn man den Wunsch zu sterben genauso akzeptieren kannst wie den Wunsch zu leben.

 Der körperliche Tod ist nur ein Wandel. Der Tod des Ichs ist jedoch das Ende. Das ist der Unterschied zwischen dem körperlichen Tod und dem Tod des getrennten Ichs durch Hingabe zu Krishna.

 

Ist man wirklich bereit für das Ende?

 Man will, dass es weitergeht, dass das eigene Leben weitergeht. Der Moment des Endes ist belastet mit allen möglichen Vorstellungen des Endes. Das irreversible Ende ist eine schreckliche, grausame Vorstellung. Der Geist produziert zu seiner eigenen Verteidigung unterbewusste Schreckensvorstellungen von Leere, Öde und Nicht-sein. Und so versucht man diesen vermeintlichen Lebensfluss irgendwie aufrechtzuerhalten – mit Gedanken, Hoffnungen, Wünschen, mit einer selbsterschaffenen Zukunft.

 Genau das ist das Immer-wieder-Hinauszögern des Endes. Das bewusste Eingeständnis in die Nichtbereitschaft für das Ende ist sicher der Anfang.Wer nicht bereit ist für das Ende, ist auch nicht bereit für das Ende des Leidens.

  

Sicherheit 

Sicherheit wird nötig, wenn man den Tod nicht vollkommen akzeptieren kann. Wenn Tod und Leben nicht gleichwertig sind, dann muss man nach Sicherheit streben. Wenn man den Tod genauso akzeptieren würde wie das, was man für „sein Leben“ hält, wozu bräuchte es dann noch Sicherheit?

 Wenn man jede Sicherheit, nach der man gesucht hat, zurückführt auf ihre Essenz, stellt man fest, dass es immer ein Versuch des Entfliehens vor dem Tode war.

 Der Tod klopft jeden Augenblick an, aber man will es nicht hören. Er wird ausgeblendet und auf später verschoben. Genau in dieser Illusion gelingt es einem, sich weiszumachen, dass Sicherheit möglich sei. Sicher sein kann man nur so lange, wie der Tod nicht hier ist, nicht jetzt ist, sondern in einer fernen Zukunft.

 Aber das ganze Gebäude von Scheinsicherheit muss zusammenfallen.

 Wer nicht bereit ist zu sterben wird diese tiefe Lebensfreude nicht erfahren können. Wird der Tod aber anerkannt, respektiert und damit vollkommen eingeladen ist – körperlicher Tod, emotionaler Tod, geistiger Tod – was ist dann die Sicherheit wert, nach der man so lange gesucht hat und so um sie bemüht war?

 Wer oder was sollte dann vor dem Tod noch gesichert werden?

 „Das, was wirklich ist, erfährt keine Veränderung und das Zeitweilige hat nie Bestand.“ (Bhagavad gita 2.16) Alles Gewordene muss wieder weichen, damit das Ungewordene Eintritt in unser Leben finden kann.

 In der Seinstaubheit (Srimad Bhagavatam 2.1.4) existiert einfach kein Gefühl für die andere Dimension. In der Begegnung mit dem Tod bricht Unvergängliches ins menschliche Sein.

 Die Flucht vor der Unausweichlichkeit des Todes ist Leiden. Entweder ist man dazu bereit oder man leidet noch einige hundert Jahre weiter im Glauben, man könne sich in Sicherheit bringen.

 

Suizid 

Der Wunsch, zu sterben ist ein Wunsch, der sehr weit verbreitet ist. Er ist viel verbreiteter als wir vielleicht annehmen. Im  Grunde ist er die Regel, aber er ist verboten, tabu. Es ist verboten offen auszusprechen: „Ich will sterben. Ich habe den Wunsch zu sterben.“

 Die Gesellschaft dankt es einem nicht, denn es erinnert sie an ihre Todesangst, an ihre Todesverachtung. Aus diesem Grund wird man beim Anschneiden dieses Wunsches von allen ermutigt zur Ablenkung, in der Oberflächlichkeit des Lebens einzukehren, um sich vor dem Todesgedanken zu zerstreuen.

 Es ist ein naiver Glaube, den Frieden im Tod des Körpers finden zu wollen.

 Jeder wächst auf in der Trance, dass „ich der Körper bin“ und „wenn dieser Körper nicht mehr ist, dann habe ich endlich Ruhe und Frieden – genau das, wonach ich immer gesucht habe.“

 Dieser Wunsch zu sterben ist in Wirklichkeit Ausdruck eines tieferen Wunsches und der Wunsch nach dem Tod des Körpers ist lediglich oberflächlicher Ausdruck dieses Wunsches. 

Es ist wichtig zu erforschen, was dieser Wunsch wirklich will.

 Der Wunsch des Selbsmörders ist kindlich und es ist ohne jeglichen transformatorischen Wert, diesen Körper zu ermorden.

 Es ist ein frommer Wunsch, ein Aberglaube, ein Missverständnis aus der Identifikation von „ich bin dieser Körper, und weil ich leide, will ich nicht mehr, dass ich existiere“. Aber die eigene Existenz ist ohnehin völlig unabhängig vom körperlichen Zustand und das Leiden geht auch ohne Körper weiter.

 Schaue durch diese kindliche Idee hindurch und spüre, dass das wirkliche Potential dieses Wunsches innerlich so dramatisiert  wird, weil er eben verboten ist. Lass ihn auftauchen und nimm ihn an.

 

Es ist nicht falsch, sterben zu wollen. Im Gegenteil: es ist wesentlich. Die Frage ist nur: Was muss sterben? 

Bhakti bedeutet das vollkommen zugelassene Sterben von allen Designationen, mit denen man seine Identität einhüllte.

Der Körper muss ohnehin sterben, aber das befreit einen nicht vom Leiden.

 Man braucht sich mit diesem Wunsch nicht schlecht zu fühlen. Im Gegenteil. Er kann ein Eintrittstor sein. Es braucht auch die Bereitschaft, den Schmerz zu fühlen, den dieser Wunsch mit sich bringt. Aber in all dem verweilt man in der Frage, was dieser Wunsch wirklich will.

 Das ist der Moment, in dem die spirituelle Dimension berührt wird.

 „Ich will sterben und ich will diesen Körper umbringen und nicht mehr sein“ – das ist eine Verstrickung in die kleine persönliche Welt und der Glaube, dass dieses kleine leidende „Ich“ mit dem Tod des Körpers augelöscht werden könnte, ist eine leere Hoffnung.

 

Der Geist versucht, einen Schuldigen für das Leiden und die vermeintliche Sinnlosigkeit des Lebens zu finden. Dann wird der Körper zum Schuldigen erklärt und muss gewalttätig hingestreckt werden.

 Dass der Körper schuldig ist - dieses Konzept der fleischlichen Schuld findet sich auch in der Kirche.

 Diese Idee, dass der Körper schuldig ist, ist eine Projektion des denkenden Ichs, das seine eigene Verantwortung nicht erkennen will und irgendeinen Schuldigen sucht, gerade so als könnte der Körper etwas dafür, dass man sich mit ihm identifiziert. Erst identifiziert man sich mit ihm, nimmt etwas Wesensfremdes einfach in Beschlag, was bereits viel Leiden verursacht („Die Ursache des Schmerzes, der vermieden und ausgelöscht werden kann, ist die Vereinigung des Sehers mit den Objekten seines Sehens, dem Gesehenen.“ Patanjali yoga sutra 2.17) und dann wird der Körper noch schuldig erklärt, wenn der Schmerz unerträglich wird und er erhält Todesstrafe.