Sva Niyama Dasakam
Ich bin zwischen Weihnachten und Neujahr in dem Stille-Retreat im Narayan Ashram in den österreicherischen Bergen mehrere Male über ein paar Verse von Raghunath das Goswami gestolpert. Ich habe sie übersetzt und ein wenig erlörtert.
Sie heissen Sva-niyama-Dasakam. Es sind zehn heilige Gelübde und eine Art Neujahrsvorsätze auf transzendentale Art. Da die Menschen als kollektive Abmachung gerade wieder ein neues Jahr eingeleitet haben, möchte ich dir diese schenken.
In der Betrachtung von inneren Eigenschaften, die förderlich für den inneren Weg sind (wie Demut, Gelassenheit, Toleranz etc), gibt es einerseits eine authentische Qualität davon und andererseits auch die Gefahr der Imitation. Wenn die moralische Seite, also die direkte Verhaltensnorm, stark betont wird, erhöht man dadurch die Wahrscheinlichkeit zur Imitation.
Deshalb geht es den Bhaktas immer primär um die grundlegende Seelenhaltung in Beziehung zu Radha Krishna, denn aus dieser heraus erwächst dann natürlicherweise ein Verhalten, das dann durchdrungen ist von einer inneren Haltung und nicht mehr aufgesetzt ist. Denn nur die Ausführung einer Handlung in dieser Welt ohne entsprechenede innere Stimmung enthält nicht die Transformationskraft, die wir im spirituellen Leben so wesentlich bedürfen.
Diese innigste Ausrichtung ist der transmoralische Aspekt des inneren Weges. Der moralische Aspekt besteht im Verändern von Verhaltensmustern, die einem geprägt hatten:
Ein verschlossener Mensch öffnet sich. Der Gehemmte fängt an, sich zu äussern, der Verdriessliche zu danken. Dem Distanzierten gelingt es, sich hinzugeben. Der Unzufriedene sieht, wie beschenkt er eigentlich ist. Der Vieldeutige gewinnt ein klares Gesicht. Der "alles recht gemacht" hat, wird ehrlich.
Der sich festklammert an Positionen oder Dingen, darf loslassen, merkend, dass nichts verloren geht.
Der immerfort über die schlimme Welt klagt, findet zum Erbarmen mit Mitwesen. Der Durchsetzungstyp findet Wege zum Frieden. Der Könner wird zum Liebenden. Der Moralist lernt Freundlichkeit. Derjenige, welcher ständig alles selbst machen will, lässt geschehen, was ohne ihn geschehen soll und darf.
Der transmoralische Aspekt des inneren Weges besteht aus einem stillen Erwachsen von Sehnsucht zu Gott, von Liebe zu Radha Krishna, speziell in der Gemeinschaft von erwachten Geweihten Gottes.
Der moralische Aspekt mag anfänglich nicht einmal integriert sein. Der transmoralische Aspekt ist nicht davon abhängig.
Es war nicht ein expliziter Wunsch nach Verstrickung, sondern eher ein „Sich-Verlaufen im Gestrüpp des Lebens, was die Wucht der angewohnter Konditionierung erschuf. Deshalb bedarf der innere Weg auch nicht primär Anleitungen für das Leben im Gestrüpp (also moralische Religion), sondern viel mehr Orientierung und Herausführung, das Licht der Inspiration und die eschatologische Faszination (transmoralische Religion).
Sadananda Swami, der Guru von Walter Eidlitz, schreibt in einem Brief (15.3.1954):
„So, wie wir sind, müssen wir Ihm dienen und zu Ihm kommen – Radha weiss, wer
wir sind, und wir sollten uns nicht so sehr um unsere Fehler grämen, sondern uns
sorgen, dass unser Wunsch, Ihr zu dienen, nicht brennend genug ist. Ein „besserer
Mensch“ zu werden ist weder ein Beweggrund noch ein Mass des Fortschritts.
Alles, was wir tun, wonach wir streben, im tiergleichen Leben wie in der tiefsten
Versenkung, ist von Motiven bestimmt; überall lauert eine versteckte Absicht. Die
hehrsten religiösen Ideale, die wir geneigt sind so sehr zu bewundern, sind von
Krishna’s Standpunkt her allesamt gottlos. Genau so, wie Er Selbst, so sind Radha
und wahre Liebe ohne Absicht und ohne Beweggrund. Und diese ursachlosabsichtslose Liebe allein vermag alles Wissen und alle Weisheit zu geben, die nötig sind.
In diesem Sinne möchte ich dir diese tramsmoralischen Gelübde von unserem Raghunath das Goswami schenken. Ganz kurze Kommentare von mir finden sich noch unter den Versen.
Sva-niyama-dasakam
Zehn Gelübde, um in die Stimmung von Vraja-Dham einzutauchen
Theologie und die Auseinandersetzung mit philosophischen Wahrheiten sind für mich nicht Mittel, den Menschen etwas Vorgefertigtes, an das sie glauben sollen, vorzusetzen.
Vielmehr stellen sie eine substanzielle Hilfe dar, in jeder Lebenssituation auf die Fragen des Herzens neu zu antworten. Theologie ist nur der Versuch, eine innere Gotteserfahrung in Worte zu übersetzen.
Ich glaube nicht an fertige und abgeschlossene Antworten. Das Absolute darf sich immer wieder neu offenbaren, was natürlicherweise bedeutet, dass die Antworten auf die Fundamentalfrage des Daseins immer wieder neu ausformuliert werden möchte.
Alle spirituellen Texte und die Auseinandersetzung damit ist lediglich ein kleiner Anstoss, das Echo in uns als Seele zu erwecken.
Der Mahamantra ist die Verbundenheit mit dem lieblich Spielenden und seiner Radhika. Entferne ich mich doch so weit als denkbar von ihnen, seinen Flötenklang und ihre Einladung für nitya-seva höre ich, sehr sehr leise, fast wie eine Vermutung - und doch realer als all der vergeblich zitternde und zetternde Lärm einer verängstigten Welt. Sollte das Unmögliche geschehen und der Ton verstummte auf immer... alles wäre vollends vergebens gewesen.
„Ich bin wohlgenährt, habe eine Unterkunft, bin gesund und werde im Alter versorgt und gepflegt. In dieser geordneten und erarbeiteten Sicherheit fühle ich mich aufgehoben. Ich lebe bequem im Fluss wohltemperierter Annehmlichkeiten.“
Bhajan ist nicht der angenehme Zusatz zu einem eigentlich ausgefüllten Leben. Bhajan beginnt erst im Erspüren existenzieller Dringlichkeit, im Erkennen der Leere, die durch nichts anderes in der Welt kompensiert werden könnte und welche selbst in den angenehmsten innerweltlichen Zuständen nicht im Geringsten gemindert ist. Bhajan, das Urbedürfnis einer jeden Seele, ist der Wunsch nach Seva zu Radha-Krishna und möchte in uns wieder mit aller Wucht aufleuchten.
Der Heilige Name ist nie einfach ein Mantra, das nur gesungen wird. Es bedarf immer Führung dazu. Als Narada Muni Citraketu in die Diksha Mantras einweiht gibt er ihm gleichzeitig noch Unterweisung dazu (Bhagavatam 6.16.21 ff). Dies ist fundamental wichtig. Denn erst, wenn man die Stimmung des Mantras erfasst, beginnt sich der Mantra zu offenbaren. Im Caitanya Caritamrita (1.8.16) heisst es, dass man mit grosser Konzentration für viele Leben die heiligen Gottesnamen anrufen kann und dennoch nicht das erhält, wohin diese einem eigentlich hinführen möchten.
In Berührung mit Bhakti, der Freudenkraft Gottes, welche einem in Sadhu Sanga geschenkt wird, erwacht die natürlich in der Seele angelegte Sehnsucht des spontanen und ununterbrochenen Dienens zu Radha-Krishna.
Die Kompensation davon, das konstante Mühen um eigene Befriedigung, schwindet dann dahin und erübrigt sich. Man betrachtet dann Glück und Leid, das Gewünschte und das Zurückgewiesene, Himmel oder dunkle Gefilde und auch die Befreiung von der materiellen Welt als ebenso wertlos wie Traumgebilde oder Phantasmagorien (Trugbilder).
Graduell wird Bhakti-Devi mehr im Herzen etabliert und in dem Masse beginnt sich die Seele nach Raga-mayi Seva (liebender Dienst mit grosser Anhaftung an Radha-Krishna) zu sehnen.
So wird die Identifikation mit dem menschlichen Körper und den Gedankenwelten schnell weichen und man darf fixiert und absorbiert werden in Vraja-Bhajan.
Die gesamte substanzlose Szenerie der materiellen Welt verschwindet vom eigenen Blickfeld und man beginnt nun, das ewig leuchtende liebliche Königreich Gottes, Sri Vrindavan, direkt wahrzunehmen. Dort wird man gesegnet durch das Hineinsinken in den Ozean der erstaunlichen Schönheit von Radha-Madhavas Gestalten, Eigenschaften und Spielen, die einem lieber und vertrauter sind als alle Ereignisse, Begegnungen und Erlebnisse aus Millionen von Leben.
Unser Raghunnath das Goswami nimmt uns an der Hand und führt uns sanft nach dem ewigen Vrindavan.
Es ist die Natur von körperlichem Bewusstsein, dass es die Erinnerung an temporäre Angelegenheiten im Bewusstsein wach ruft. Es ist sozusagen das Magnet, welches die Aufmerksamkeit an stumpfe Materie und deren Bewegungen, bindet. Es ist die direkte Folge der Gleichgültigkeit zu Gott.
Deshalb ist smarana, Erinnerung an das göttliche Paar die wesentlichste Aufgabe des Menschen.
„tuya vismarana shela buke“ „Vergessenheit von euch schmerzt mich mehr als einen Speer in meinem eigenen Leib drin zu haben“, singt unser Narottam das Thakur im „Prarthana“.
Befreiung von weltlicher Existenz, die nur ein Gebilde im eigenen Geist ist, bedeutet die erlangte Bereitschaft zur vollständigen Hingabe und die erweckte Faszination an die Erinnerung an Radhika-Syam.
Zu Beginn ist der praktizierende Bhakta noch gebunden durch Tausende von Banden der Ich-Beziehung und der daraus folgenden Ansprüche zu Besitztümern, Geld, Partnern und Freunden, da man sich daraus eine Erfüllung verspricht. Aber wenn der erste Offenbarungsstrahl der Gottesliebe (Bhava), der durch solche Erinnerung ausgelöst wird, den Bhakta trifft, werden diese Verhaftungs-Strukturen schnell aufgelöst und diese Seele wird gebunden an die Schönheit von Yugala-Kishors Gestalten, Eigenschaften und Lila.
Text 1
gurau mantre namni prabhuvara-sacigarbhaja-pade
svarupe sri-rupe gana-yuji tadiya-prathamaje
girindre gandharva-sarasi madhu-puryam vraja-vane
vraje bhakte gosthalayisu param astam mama ratih
„Ich möchte meine Liebe hinfliessen lassen zu meinem spirituellen Lehrer, den Diksha-mantras, dem heiligen Namen Krishnas, zu den Füssen von Sri Caitanya, zu Svarupa Damodara Gosvami, Srila Rupa Goswami und seinen Gefährten, zu seinem älteren Bruder (Srila Sanatan Goswami), zu Giriraj Govardhan, zum Radha-Kunda, zu heiligen Bezirk von Vrindavan, zu den Wäldern von Vrindavan, zu allen Geweihten Gottes und zu den ewigen Einwohnern von Vrindavan.“
Alle Menschen sprechen von Liebe. Damit meinen sie Nachsicht, und Mildtätigkeit zum Wohl derjenigen, die man die Seinen bezeichnet. Familie, Partner und Kinder.
Der innere Weg wird mit grosser Eindringlichkeit diese engen Grenzen durchbrechen. Die Liebe geht dann über das Mass hinaus, auf das ein Mensch auch ohne Gott kommen könnte. Diese Liebe, die entbunden ist von limitierenden Einengungen, macht keinerlei Unterschiede mehr. Alle Wesen werden in dieser Liebe als Geschwister betrachtet, die aus dem gleichen Stoff als man selber besteht.
„Die Surrogate der Gottesliebe erdrosseln uns.“
Wenn man diesen einen Koan wirklich meditiert und versteht, entfaltet sich daraus eine ungeheure Kraft im spirituellen Leben.
Hier skizziert unser Raghunath das Goswami die natürliche Ausrichtung erwachter Liebe.
Text 2
na canyatra ksetre hari-tanu-sanatho 'pi sujanad
rasasvadam premna dadhad api vasami ksanam api
samam tv etad gramyavalibhir abhitanvann api katham
vidhasye samvasam vraja-bhuvana eva pratibhavam
„Ich möchte nicht an einem Ort leben, wo ein wunderschöner Deity von Krishna verehrt wird, wo grosse Devotees erfüllt vom süssen Nektar transzendentaler Liebe Rasa-katha sprechen.
Ich möchte nur in Vrindavan leben, selbst wenn ich dort normales Dorfgeschwätz mit den dortigen Bewohnern rede. Geburt für Geburt möchte ich einfach in Vrindavan meine Residenz haben.“
Tiefe Ausrichtung, ist die Essenz von Bhajan. In der Gita (9.30) sagt Krishna, dass jemand in seinem Verhalten und moralischer Integrität noch sehr mangelhaft sein kann, doch wenn diese
ananya-bhava (Einpünktigkeit) auf ihn vorhanden ist, betrachtet Krishna ihn als einen Sadhu.
Text 3
sada radha-krsnocchalad-atula-khela-sthala-yujam
vrajam santyajyaitad yuga-virahito 'pi trutim api
punar dvaravatyam yadu-patim api praudha-vibhavaih
sphurantam tad vacapi ca na hi calamiksitum api
„Selbst wenn ich noch lange Zeit den Trennungsschmerz vom göttlichen Paar erdulden muss, so werde ich nie, nicht einmal für einen Moment, den heiligen Weihekreis (Dham) von Vrindavan verlassen, wo Sri Sri Radha Krishna ewiglich unvergleichliche transzendentale Spiele geniessen. Selbst wenn Gott persönlich vor mich käme und mich einladen würde, Sri Krishna in Dvaraka zu sehen, würde ich niemals dorthin gehen. Radha und Krishna in Vrindavan sind mein ein und alles.“
Rasa, die Gottesbeziehung, ist von Natur aus immer glückselig. Der immer frische und erstaunliche Fluss von Rasa hat zwei Ufer: Yoga (Zusammensein) und Viyoga (Trennung), doch beide sind gleich freudvoll und in gleicher Verbundenheit. Seva ist immer Freude, obwohl es von aussen manchmal leidvoll erscheinen mag. Im Vergessen des Seva existiert aus der Tiefe betrachtet immer nur Leid, obwohl es manchmal für den Geist für einen kurzen Moment glückselig erscheint.
Im Radharasa-Sudha Nidhi (211) heisst es: „O Svamini, wann darf ich in Vrindavan leben ständig und gänzlich erfüllt von devotionaler Aufregung, Besorgnis, Unruhe und Sorge?“
Das ist nonduale Transzendenz. Denn diese Sorgen und Ängste im Seva haben nichts mehr gemeinsam mit den Aufwühlungen von Emotionen, die sich um das Ich kreisen. Es sind Erlebnisse, die weit hinter dem gänzlich stillen Geist auftauchen. Deshalb enthalten diese Besorgnisse ungeahnte Freude in sich.
Srila Bhaktivinod Thakur sing im Saranagati:
tomara sevaya dukha haya jata se to parama sukha
seva sukha dukha parama sampad nasaye avidya dukha
“Mein lieber Herr, die Schwierigkeiten, die ich in deinem Dienst, zu deiner Freude durchstehe, betrachte ich als mein grösstes Glück. Freuden und Leiden, dass ich im Dir-Dienen erfahre, sind mein grösster Schatz, denn sie beide lösen die grundlegende Unwissenheit auf: meine Vergessenheit und somit meine Distanz zu dir.“
Auch wenn nun Gott persönlich vor einem hintreten würde und die Einladung ins perfekte ewige Dvaraka offerieren würde, so könnte die durch Sadhana und Gnade erwachte Gottesliebe, welche einem die Faszination von Vraja-Bhakti schenkte, niemals mehr einwilligen zu so etwas.
Er bietet mir ja sowieso ständig alles an. Jeder einzelne Moment des Lebens ist eine Auswahl. Diese wird aber nicht mehr in der Beliebigkeit eines vertrockneten Herzens getroffen, das alles ausprobieren möchte, um sich des Mangels zu beheben.
Diese ist nun nicht einfach nur eine Wahlmöglichkeit unter vielen, sondern es ist die erwachende reine Liebe der Seele, die nur Radha-Krishna will und Sie immer auch von den wunderschönsten Angeboten der Wandelwelt bevorzugen wird.
Text 4
gatonmadai radha sphurati harina slista-hrdaya
sphutam dvaravatyam iti yadi srnomi sruti-tate
aham tatraivoddhata-mati patami vraja-purat
samuddiya svantadhika-gati-khagendrad api javat
„Doch wenn ich mit meinen eigenen Ohren hören würde, dass meine Radhika nach Dvaraka gegangen ist, wo Sri Hari sie liebevoll umarme, dann würde ich mit erregtem Herzen Vrindavan verlassen und mich schneller nach Dvaraka begeben, als Garuda dahin fliegen könnte.“
Text 5
anadih sadhir va patur ati-mrdur va pratipada-
pramilat-karunyah praguna-karuna-hina iti va
maha-vaikunthesadhika iha naro va vraja-pater
ayam sunur gosthe pratijani mamastam prabhu-varah
"Lieber Krishna, ob Du der anfangslose Ursprung aller Existenz bist, oder auch ein Anfang hast, ob du die letztliche Höchste Wahrheit bist, oder einfach nur ein Lügner ohne irgendwelche Substanz, ob du ganz sanft und gütig bist, oder gefühlslos und roh, ob Du unendlich barmherzig bist, oder sehr sehr grausam, ob du die Höchste Persönlichkeit Gottes, der Herr aller Welten bist, oder einfach nur ein ganz gewöhnlicher Kuhhirtenknabe, der Sohn von Nanda Maharaja - was immer Du bist und wer immer Du bist, es kümmert mich nicht. Ich liebe Dich einfach, ohne irgendwelchen Grund und Du bist mein ein und alles - Geburt für Geburt."
Es ist der Punkt, wo die Gottesliebe nicht mehr von der "Aishvarya" (vom Erkennen Seiner Macht, und Grösse, welche einen ja fast fordert, sich ihm zu Ergeben) hervorgerufen wird, sondern in der Grundlosigkeit seiner Lieblichkeit ruht. Man liebt ihn nicht, weil er der Höchste ist, sondern weil Er Sri Krishna ist - unendlich anziehend.
Hier wird die ganze spirituelle Praxis nicht mehr einfach nur eine Bürde des Alltags, die es zusätzlich zu den vielerlei Aufgaben auch noch zu bewältigen gilt, eine Pflichtübung, sondern eine freudige natürliche Bemühung für Ihn. Sie wird zum anstrengungslosen Liebesdienst, ohne den man nicht existieren könnte.
Was kümmern den Liebenden die Kleider, die Schmucksteine und die Blumen in den Händen der Geliebten? Sie ist es, die er sucht und sonst nichts.
Wenn er sie hat und keine Blumen und kein Schmuck, so fehlt ihm nichts. Aber wenn er nur die Blume in den Händen hält, fehlt ihm alles.
Die Seele, die langsam zur Liebe reift, ist nicht an Gottes Macht, an seiner Position und an seiner Grösse interessiert, sondern einfach nur an ihm.
Krishna, du bist nur durch reine Liebe erreichbar.
Wie könnte es sonst sein, dass du glückselig herumtollst in den staubigen Innenhöfen von Kuhhirten in Vraja, während du zögerst, selbst nur für einen kurzen Moment auf die rituell gesäuberten Altäre der Brahmanen zu schauen?
Wie könnte es sonst sein, dass du mit den Kühen von Vrindavan sprichst und mit ihnen zusammen muhst und ihnen nachrennst, doch gänzlich verborgen und still bleibst gegenüber den Weisen, die in Tapovan (in den Himalayas) die Hymnen des Sama-Veda rezitieren?
Wie könnte es sonst sein, dass du der demütige Diener der jungen Mädchen von Gokula bist und sie bittest, ihre Füsse auf deinen Kopf zu legen, während du taub bist für die Gebete von selbst kontrollierten Mystikern, die dich bitten, ihren Herrn zu werden?
O Krishna, aus dem kann ich schliessen, dass diese reine unschuldige Liebe von Vrindavan dich gänzlich bezwungen hat. (Bilvamangala Thakur)
Text 6
anadrtyodgitam api muni-ganair vainika-mukhaih
pravinam gandharvam api ca nigamais tat-priyatamam
ya ekam govindam bhajati kapati dambhikataya
tad-abhyarne sirne ksanam api na yami vratam idam
„Srimati Radhika wird in allen Veden und von den grossen Weisen, angeführt von Narada, verherrlicht und ist das Allerliebste von Krishna. Nicht für einen einzigen Moment möchte ich die Gemeinschaft erhalten von einer Person, die nur Sri Govinda verehrt und die erhabene Srimati Radharani ausser Acht lässt. Das ist mein Gelübde.“
Das Geschenk von Sri Caitanya an diese Welt ist Radha-Ashraya-Bhajan, die Verehrung von Radha-Krishna mit einer Betonung von Srimati Radharani. Unter ihrer Führung und in der Zuflucht zu ihr möchte man ewiglich dienen.
Srila Raghunath das Goswami sagt am Ende des Vilapa Kusumanjali (102): „O Svamini, wenn ich die Zuflucht bei dir nicht hätte, was würde mich dann mein eigenes Leben bedeuten, Sri Vrindavan und selbst dieser Krishna?“
Srimati Radharani ist Bhaktidevi. Bhakti will immer nur Bhakti und nie ein Resultat davon – weder irgendwelche Segnungen dieser Welt, noch die Erhebung in die spirituelle Welt und auch nicht
einmal die direkte Gemeinschaft mit Krishna selbst.
Text 7
ajande radheti-sphurad-abhidhaya sikta-janaya-
naya sakam krsnam bhajati ya iha prema-namitah
param praksalyaitac-carana-kamale taj-jalam aho
muda pitva sasvac chirasi ca vahami pratidinam
„Vor jeder Person in dieser Welt, die Sri Krishna verehrt und dieses glückselige Wesen, das den Namen Radhikas auf seinen Lippen trägt, möchte ich mir grosser Liebe verneigen und deren Füsse waschen. Dieses Wasser möchte ich dann jeden Tag trinken und trage es auf meinem Kopf.“
Seva zu den Bhaktas schenkt einem die Rati, die Liebe, zum göttlichen Paar.
Im Berühren von Radha-Krishna, ihrer Welt und ihrem Lila, werden Worte gänzlich hilflos. Durch den Strom der Bhava (dem Zustand, wenn die Seele erstmals von einem Strahl der göttlichen Intervention berührt wird) wird sich die Gottesliebe auch ausdrücken durch den Pfad von Worten. Doch diese sind eigentlich unfähig, einen solch kraftvollen Strom zu ertragen und vermitteln. Die Worte werden aber wie erstickt im Griff von Bhava.
Wenn sich nun Bhava in einem sensitiven Bhakta auch in Form von Worten ausdrückt, wird dieses inferiore Medium der Sprache (dina-bhasa) zu samadhi-bhasa, einem Medium, das ein Zustand der göttlichen Ergriffenheit zu vermitteln vermag.
Die Kraft der Gottesliebe und die spirituelle Verwirklichung des Bhakta drücken sich dann auch in Worten aus. Deshalb gibt es keine kraftvollere Quelle, Bhava zu erlangen, als demütig gebetsvoll die Worte (bhava-vani) von Heiligen zu empfangen. In ihrer Gemeinschaft werden Worte dieser Welt zu einer Schnittstelle zur Transzendenz hin.
Text 8
parityaktah preyo-jana-samudayair badham asudhir
durandho nirandhram kadana-bhara-vardhau nipatitah
trnam dantair dastva catubhir abhiyace 'dya krpaya
svayam sri gandharva sva-pada-nalinantam nayatu mam
„Meine geliebten Herzensfreunde (Svarupa Damodara, Rupa Goswami und Sanatan Goswami) haben mich verlassen. Nur ich bin hier noch zurückgelassen worden. Ich bin ohne Weisheit, blind und ertrinke in einem Ozean von Trennungsschmerz. Nun nehme ich ein Strohhalm zwischen meine Zähne und flehe: „O Srimati Radharani, bitte gewähre mir den ewigen Dienst zu dir.“
Yatha dekha vaishnavera vyavahare dukha – „Wenn man alles Glücksgefühl aus allen Universen zusammenkratzen könnte und auf eine Waage legen würde, dann würde ein kleiner Tropfen heiligem Trennungsschmerzes zu den Gottliebenden und Radha-Krishna selber dies mehr als aufwiegen.“
„Obwohl ich gänzlich unqualifiziert und sicherlich auch unwürdig bin, diesen heiligen Bereich der Gottesbegegnung zu betreten, so ist mein Geist dennoch durch eine heilige Begierde aufgewühlt und möchte unbedingt von Radha-Krishnas erstaunlichen Eigenschaften hören.“ (Caitanya Caritamrita 2.1.204)
Bhajan, der innere Übungsweg, bewegt sich genau in diesem Spannungsfeld, in welchem beide Pole notwendig sind. Im Zusammenspiel der Demuts-Stimmung, in welcher die eigenen Ansprüche und Recht-Einforderungen vergehen und in der heiligen Begierde, in welcher man einen grossen Enthusiasmus aufbringen wird, beginnt nämlich die reine Sehnsucht klar hervor zu leuchten. Und in ihr gibt es keine Betrachtung mehr über die eigene Befähigung, Mängel oder Unqualifiziertheiten.
Text 9
vrajotpanna-ksirasana-vasana-patradibhir aham
padarthair nirvahya vyavahrtim adambham sa-niyamah
vasanisa-kunde giri-kula-vare caiva samaye
marisye tu presthe sarasi khalu jivadi-puratah
Wie willst du denn nun noch deine verbleibende Zeit verbringen?
„Meine Nahrung wird ein wenig Milch der Kühe von Vrindavan sein, mein Zuhause eine kleine Strohhütte. Ich werde mich mehr und mehr von dieser Welt lösen und aufrichtig die heiligen Schriften studieren. Ich möchte nur noch am Radha-Kund leben, in der Nähe von Giriraj Govardhan. Dann werde ich meinen Körper an diesem geliebten Radha-Kund aufgeben in der Gemeinschaft von Srila Jiva Goswami und anderen Geweihten.“
Text 10
sphural-laksmi-laksmi-vraja-vijayi-laksmi-bhara-lasad-
vapuh-sri-gandharva-smara-nikara-divyad-giribhrtoh
vidhasye kujadau vividha-varivasyah sa-rabhasam
rahah sri-rupakhya-priyatama-janasyaiva caramah
„An einem einsamen verborgenen Ort in den Wäldern von Vrindavan, folge ich meinem geliebten Freund Srila Rupa Goswami und werde Sri Krishna, der leuchtender und anziehender ist als Millionen von Liebegöttern, und auch Srimati Radharani, deren glorreiche Schönheit unzählige Laxmis übertrifft, auf vielfältige Weise verehren.“
Vraj Bhajan ist nie eine Pflicht oder eine tägliche Übung, sondern eine Verehrung aus Liebe, die auf heiliger Begierde beruht und von ihr ewiglich angetrieben wird.
Diese wird im Hören von Hari-katha in der Gemeinschaft von Bhaktas erweckt und immer weiter angestachelt.
In den Augen aller Menschen wohnt eine unstillbare Sehnsucht. In den Pupillen der Menschen aller Rassen, in den Blicken der Kinder und Greise, der Mütter und liebenden Frauen, in den Augen des Polizisten und Angestellten, des Abenteurers und des Mörders, des Revolutionärs und des Diktators und in denen des Heiligen: in allen wohnt der gleiche Funke unstillbaren Verlangens, das gleiche heimliche Feuer, der gleiche unendliche Durst nach Glück, Freiheit und Freude ohne Ende – nach Radha und Krishna.
Rainer Maria Rilke hat in einem Gedicht seiner Vorstellung Ausdruck gegeben, dass Gott jedem Menschen, bevor er ihn in die Nacht dieser Welt hinausschickt, ein Wort mit auf den Weg gibt. Und dieses Wort lautet: "geh bis an deiner Sehnsucht Rand".
"Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
Und keine Heimat haben in der Zeit."
Die Sehnsucht besteht darin, dass wir mitten im Trubel dieser Zeit leben, dass man mitten im Gewoge einer manchmal unruhigen Lebensfahrt wohnt, sich aber selber nicht definiert als eine Person aus und von dieser Welt.
Die Sehnsucht ist das Wertvollste, das der Mensch in sich trägt. Sie ist der Anker, den Krishna in unser Herz geworfen hat, um uns daran zu erinnern, dass unser Herz im Vorläufigen nicht zur Ruhe kommt. In der Sehnsucht ist in uns schon etwas, was die Welt übersteigt, über das daher die Welt keine Macht hat. Die Sehnsucht macht den Menschen heilig - ortet ihn in der Transzendenz an.
Text 11
krtam kenapy etan nija-niyama-samsi-stavam imam
pathed yo visrabdhah priya-yugala-rupe 'rpita-manah
drdham gosthe hrsto vasati-vasatim prapya samaye
muda radha-krsnau bhajati sa hi tenaiva sahitah
„Ein Bhakta mit tiefem Vertrauen, der diese zehn Gelübde von einem bestimmten Autor liest und sie zu seinen eigenen macht, und der seinen Geist auf die transzendentalen Formen des göttlichen Paares richtet, erlangt bald Residenz im ewigen Vrindavan und den direkten Seva zu Radha-Krishna.“