Halbwertszeit von Glück
Eigentlich, so könnte man meinen, hätte Eva doch wunschlos glücklich sein müssen. Immerhin lebte sie ja im Paradies! Sie hatte stets hinreichend zu essen und zu trinken und brauchte vor nichts Angst zu haben. Sie musste weder arbeiten noch sich Sorgen um Altersvorsorge machen. Warum setzte sie all diese Annehmlichkeiten aufs Spiel – bloss um in den Genuss dieser einen verbotenen Frucht zu kommen?
Der Drang nach einer Steigerung unserer Existenz ist neben dem Streben nach Existenzsicherung das zweite Meta-Bedürfnis.
Da die Seele ins Unbegrenzte hineinwachsen möchte und die Beziehung zu Krishna von Grenzenlosigkeit als Grundlage gezeichnet ist, ist es für sie eine widernatürliche Situation, in der Begrenztheit der Materie zu existieren. So ist es nachzuvollziehen, dass die Seele dieses Manko durch grenzenlose innerweltliche Vielfalt zu kompensieren sucht und deshalb die Unruhe zur Grunderfahrung der materiellen Welt zählt.
Existenzsicherung meint nicht nur die Sicherung des biologischen Seins, sondern auch der Güter und Beziehungen, die sich darum herum gruppiert haben. Die Folge davon ist die Erfahrung von Angst und Sorge, da man die Dinge und Beziehungen erhalten möchte, sie aber alle notwendigerweise durch die Kraft der Zeit vergehen.
Aber selbst nachdem man im Sicherungsbemühen vorläufig erfolgreich war, so ist eine gesicherte Existenz noch lange keine erfüllte Existenz.
Stellen sie sich vor, ihr jetziges Leben würde genau in diesem Moment „eingefroren“. Sie und alle, die sie kennen, würden ewig so leben. All die Lebensumstände würden in Ewigkeit exakt so bleiben. Man bräuchte nie wieder eine Angst davor zu haben, irgendetwas zu verlieren – das Leben, die Liebe, die Freunde, die Besitztümer… Man hätte nie wieder Sorgen. Alles, was einem jetzt als wertvoll erscheint, würde für alle Zeit erhalten bleiben. Aber es würde auch nichts Neues dazukommen. Jeder Tag, den man erleben würde, wäre eine ewige Wiederkehr des Gleichen, ohne Verluste, ohne Gewinne, ohne Auf und Ab. Wäre man dauerhaft glücklich in einer solchen Welt ewiger Sicherheit?
Warum nicht? Weil Glück notwendigerweise mit einer Erweiterung, einer Steigerung verbunden ist.
Als Eva nach dem Apfel griff, tat sie das Vernünftigste, was sie unter den gegebenen Umständen hätte tun können. Sie nutzte die Chance, über sich selbst hinauszuwachsen. Diese Chance war jedes Risiko wert, auch das Risiko, sämtliche Annehmlichkeiten des Paradieses zu verlieren.
Die Schriftstellerin Esther Vilar hat in ihrem Buch „Die Schrecken des Paradieses – wie lebenswert wäre das ewige Leben?“ geschrieben: „Auf Dauer wäre ein ewiges Leben einfach unerträglich. Es würde nicht lange dauern und wir würden den allmächtigen Schöpfer auf Knien darum bitten, uns endlich sterben zu lassen. Um auf diese Weise der schrecklichen Monotonie des Paradieses zu entgehen.“
Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Sigmund Freud stellte fest, dass jede „Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation, letztlich ein Unbehagen erzeugt. Wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv geniessen können, den Zustand allerdings nur sehr wenig.“ (Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“).
In dem Masse, indem man das Objekt der Freude als selbstverständlich verfügbar begreift, verliert die Beziehung zu diesem Objekt an Ekstase. Das heisst nicht, dass man den Lebenspartner, den Arbeitsplatz, sein Haus oder die Besitztümer nicht mehr wertschätzen könnte, aber sie versetzen einen nicht mehr in den Rauschzustand, den man zur Zeit der Eroberung verspürte. In der materiellen Welt verblasst alles allmählich unter dem Gesetz der Sättigung.
Glück in dieser Welt kann man nicht in Einmachgläser abfüllen, um es über längere Zeit zu konservieren. Glück besitzt eine äusserst kurze Halbwertszeit.
Das erklärt auch, warum man in der Welt wieder in Umstände hineingehen muss, die einen da wieder herauskatapultieren.
In diesem Zusammenhang sind Bücher zu verstehen wie Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“.
Das grundlegende Problem des modernen Glücksuchers lautet: Wie kann man Wachstumsprozesse (Glück) erleben, wenn man im Grunde doch schon alles besitzt, was man zum Leben benötigt? Was tut man in jenen Momenten, in denen sich einfach keine weiteren Wachstumsmöglichkeiten mehr erschliessen?
Dann sinkt man einfach auf ein niedrigeres Erlebnisniveau zurück, um so die Gelegenheit zu haben, von dort aus noch einmal lustvoll wachsen zu können. Man erzeugt Disonanzen, um sich danach wieder in der Harmonie baden zu können. Man schaut spannungsgeladene Filme (im Horrorfilm bezahlt man sogar Eintritt für die Erfahrung der Angst), man fastet und erlebt Glück durch Unglück.
Offensichtlich bereitet man sich lieber selbst Schmerzen, als das schreckliche Gefühl der Stagnation ertragen zu müssen. Vielleicht ist die Depression deshalb zur Volkskrankheit der Industrienationen geworden, weil wir unter gesicherten, weithin geregelten Lebensabläufen nicht mehr genügend Kontrasterfahrungen erleben.
So versucht man sich künstlich wieder Bedeutung im Alltagsleben zu verschaffen zum Beispiel im Sport, wo freiwillig Anstrengungen auf sich genommen werden und man an Grenzerfahrungen hingelangt. Man arbeitet fünf Tage in der Woche und geniesst dann das Wochenende. Im Fussball zelebriert man eine ritualisierte Form des Krieges mit glanzvollen Siegen und vernichtenden Niederlagen. Und man erlebt Abenteuer in Form von Filmen, Romanen und Berichten aus der Presse und liest von den aussergewöhnlichen Geschehnissen in der Welt in den Zeitungen. In diesen künstlichen Kontrasterfahrungen zum eigenen Alltagsleben versorgt man sich mit dem Stimuli, weil das Verständnis von Glück, dem man sich angehängt hat, davon ausgeht, dass etwas zu geschehen hat. Von daher kommt das englische Wort happiness (to happen – sich ereignen, geschehen).
Im Yoga wird Glück nicht als die Kontrasterfahrung zu Leid verstanden, sondern als ein tiefer Zustand der Seele. Weil in der Seele die Beziehung zum Unbegrenzten, zu Sri Krishna, inhärent angelegt ist, benötigt es zum Glück keinerlei äussere Umstände. Da man als ewige Seele gänzlich verschieden geartet ist als alles Weltliche, kann Freude nicht von dort her erzeugt werden – genauso wenig wie ein Mensch angenehm satt würde, wenn sein Hemd gerade in eine Schale feinster Vanille-Creme eingetaucht wird.
Selbst äussere Extremsituationen wie Tod oder Totalverlust vermögen über diese konstante sich steigernde Freude, die die Seele in Verbindung mit ihrer Heimat – Sri Krishna – erfährt, einen Schatten zu legen.
Dann berührt man einen Strom ununterbrochener stillen Freude, der kontinuierlich erfahren wird und der nicht mehr abhängig ist von den Umständen im Aussen.
Solange man diesen Zuständen noch Wert zuspricht, wird innere Tiefe verunmöglicht, da es eine Projektion ins Aussen wäre.
Die Seele ist nie verschmolzen mit all den erlebten Zuständen in der Welt der Gedanken und Emotionen und den Erlebnisse, die diese durchlaufen. Der innere Weg lehrt Abstand zu bewahren von der Welt der vorbeiziehenden Formen und Zustände.
Dann ist es wirklich gleichgültig, ob der Augenblick begeisternd oder schnöde ist, ob klein oder gross, ob einfach oder spektakulär, ob er viel Wirkung zeigt in der Welt oder bescheiden bei sich bleibt, ob er freudvoll oder schmerzvoll ist.
Bei Krishna ist die kleinste aufrichtige Zuwendung zu ihm niemals unvergessen.
Da sich dieses Glück nicht auf eine vergängliche Welt hinbezieht, sondern auf die ewige Substanz, braucht es darin auch nicht die Kontrasterfahrung. Es sättigt sich nie.
In den Jenseitsvorstellungen projizieren viele Menschen heute einfach die diesseitige weltliche menschliche Erfahrung auf die Ewigkeit und müssen so natürlicherweise zur Schlussfolgerung der oben zitierten Esther Vilar gelangen – dass man dann irgendwann alles abgegrast hat und Gott innigst um das Geschenk der endgültigen Auslöschung anfleht.
Freude im Austausch mit dem Ewigen, mit Krishna, trägt die Erfahrung der Grenzenlosigkeit in sich und man braucht nicht wieder ein wenig materielles Leid dazwischen, um es dann wieder schätzen zu können. Es ist ein Erleben jenseits der weltlichen Polarität.