Fragestellen als spirituelle Grundpraxis

 

Im Bhagavatam werden die Fragen, welche sich auf das Absolute hin beziehen, jeweils stark gepriesen, denn solche Fragen haben bereits das Potenzial, das Selbst zutiefst zufrieden zu stellen (1.2.5). 

Der Geist des Menschen funktioniert oft so wie die Pupille: je mehr Licht vorhanden ist, desto kleiner wird sie. Inmitten von viel Weisheit und Heiligkeit, schaltet er einfach wieder auf Einschlafen. Ich beobachtete auch Pilger, die selbst in Vrindavan beim Parikrama an den heiligsten Orten einfach müde wurden und anstatt sich dem Gespräch über Radha-Krishnas lila zu widmen, sich lieber hin legten oder sich mit Körper-Bedürfnissen wie Essen oder Pflege beschäftigten.

Wie ist das möglich?

Friedrich Rückert schreibt in seinem Werk „Die Weisheit der Brahmanen“ (1836):

Im Wasser liegt der Stein und wird davon nicht weich;

Ein Tor nimmt Weisheit an und bleibt sich selber gleich.“

Wenn wir uns mit dem Heiligen umgeben, es aber nicht von Innersten her wirklich erfragen, dann stellt es nicht mehr als eine interessante Information dar und wirkt nicht verwandelnd auf unser gesamtes Wesen.

Erst die dringliche Fragestellung in sich selbst bewirkt, dass man den Inhalt des Gehörten wirklich aufzunehmen vermag und auch eine bereitwillige Ahnung erhält, was dies nun für Konsequenzen auslösen wird.

 

Gerade in spirituellen Kreisen werden oft Antworten gegeben ohne dass wirkliches Fragen vorhanden ist. Das wird dann zu einem Antworten auf etwas, wo gar kein Interesse existiert. Wer aber Antworten auf Fragen bekommt, die er gar nicht in seinem tiefsten Inneren gestellt hat, die ihn gar nicht wirklich berühren, wird bald weghören, auch wenn er aus Höflichkeit noch sitzen bleibt. Es gibt wahrscheinlich nichts Tragischeres, als interesselos zur eigenen Lebensbestimmung zu sein.

Oft habe ich gehört, dass der innere Weg Menschen Fragen beantwortet hat. Aber er  soll vorallem Ungefragtes in uns erwecken.

Dass dies geschieht ist gesünder als Antworten zu erhalten für Fragen, die man sich nicht einmal gestellt hat. Denn wer inneres Wissen nur präsentiert erhält, wird nicht innerlich wachsen, sondern ist nur der Indoktrination ausgesetzt. Dort verwandelt sich Philosophie, die Liebe zur Wahrheit, zu Ideologie, einem religiösen Aktionsprogramm.

 

Menschliches Leben bedeutet, zu lernen, nach dem Richtigen zu fragen. Die Antwort hängt immer von der Frage ab und am Anfang allen Denkens steht das Wissen-wollen, die erhabene Neugier, steht das Fragen. Die Faszination für das Wahre ist, was Philosophie eigentlich umschreibt... nach Sokrates ist dieses Suchen nach Wahrheit Mäutik, Hebammenkunst. Denn aus ihr wird der gesamte innere Weg geboren.

Die Sonderstellung des Menschen besteht gerade darin, dass er ein fragendes Wesen ist und dass ihm alles, was ihm begegnet, zunächst einmal als fraglich erscheint.

Nicht nur Philosophen, sondern jeder nachdenkliche Mensch stellt sich den Grundfragen nach dem Sinn des Ganzen immer wieder. Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?

Diese Fragen stellen uns in Beziehung zu uns selber, zu anderen, zu Gott. Und nur wenn wir auf sie eine Antwort suchen, werden sich uns diese Beziehungen und der Sinn, der sich in ihnen auftun kann, immer neu erschliessen.

Heilige Gemeinschaft ist nicht primär da, um Fragen in einem zu klären, damit man ein spirituelles Weltbild konsumierend übernimmt, sondern vielmehr erst einmal, um viele Fragen in einem aufzuwerfen, von denen man sich nicht einmal ausmalen konnte, dass man diese eigentlich in sich trug. Man ist erstaunt von der Tiefendimension und der Wesentlichkeit, welche durch das aufrichtige Erfragen aus dem eigenen Innern leise herauszuleuchten beginnt.

Würden wir einfach nur Antworten geliefert bekommen, ohne sie auch wirklich zu erfragen, würde das nur in Stumpfheit enden. Aus diesem Grund ist es so kostbar, Fragen in sich zu tragen, sie zu kauen, mit ihnen zu verweilen und sie auch an uns nagen zu lassen. Das ist wertvoller als tausend Antworten, die gar keine Veränderung in unserem Realitätsverständnis bewirken.

Es gibt Menschen, die unter Spiritualität das „Geklärt-sein aller Fragen“ verstehen. Wer die Ungewissheit nicht aushalten kann, landet schnell im Allzu-Greifbaren, nämlich an der Oberfläche. Sri Krishna ist nicht ein Rätsel, für das man einfach eine Lösung erhalten kann. Er ist ein Mysterium, welches nie ganz erfasst werden kann, welches die Faszination eines fragenden und suchenden Herzens in immer tiefere Erkenntnisse hineinlockt.

 

Wenn ein Verständnis der heiligen Dimension durch ständiges Erfragen sich nicht ausweitet, vertieft und erneuert, zerfällt es in Seichtheit. Das ist wie mit allem Leben. Stillstand ist Rückschritt und Tod. Es ist verkehrt, den inneren Weg auf die blosse Nachahmung dessen zu beschränken, was unsere Vorfahren, die Heiligen der Vergangenheit, gemacht und getan haben oder was die Tradition anzubieten hat. Lebendige Religiosität ist nie etwas Abgeschlossenes.  Religion ist in diesem Sinne immer ein gewagtes Unternehmen, ein Risiko, sich zur „terra incognita“ zu begeben. Würde dies aber unterlassen, reduzierte sich spiritueller Wachstum auf eine Entwicklungsgeschichte des Dogmas, eine Erläuterung von etwas im Grunde bereits Gegebenen.

Gäbe es ein derart statisches religiöses Bewusstsein, bestünde unsere Aufgabe einzig darin, einfach nur anzunehmen, was bereits da und ein für alle Mal gegeben ist. Aber es handelt sich vielmehr um einen Entfaltungsprozess, der durch ständiges Fragen lebendig gehalten wird.

Es geht im Wesentlichen nicht um die domestic questions, die Fragestellungen über das eigene praktische Leben mit seinen Kleinproblemen wie Gesundheit und Körpererhalt, sondern immer nur um die Grundfragen nach dem Selbst und dessen Beziehung zu Radhe Syam.

Erst dieses Erfragen verortet einem in der Heimat des unvergänglichen Friedens. Die Detailplanung des praktischen Lebens absorbiert ohnehin zu viel Lebensaufmerksamkeit.

Wer ein „Warum“ zum Leben hat, erträgt fast jedes „Wie“.

Anstatt eine grosse Zeit der Lebensenergie dahin aufzuwenden, die gegebenen Situationen zu verändern, darf man von der Freiheit Gebrauch machen, inne zu halten und dann zu entscheiden, worauf man denn überhaupt hinzugehen möchte.

Man nimmt sich Zeit für die wesentlichen Fragen.

 

In dieser wesentlichen Praxis des Fragenstellens stösst man auf fundamentale Weltanschauungen, auf Grundwerte, die dann einen Ausdruck finden in all den spirituellen Übungen und auch im Handeln in dieser Welt. Die spirituelle Praxis bleibt hohl und bedeutungslos, wenn sie nur ein Praktizieren eines Vorgangs mit einem Befreiungsversprechen darstellt und nicht die fundamentalen Grundwerte berührt, wie man die Welt und die Ewigkeit versteht und was meine Beziehung zu ihr ist. Und diese müssen erfragt werden.

Thomas Merton (1915-1968), Mystiker und Widerstandskämpfer gegen den Vietnamkrieg, schrieb einmal, wie die alltäglichen Fragen eben noch am Ureigentlichen vorbeizielen:

„Wenn du mich kennen willst, frage nicht, wo ich lebe, oder was ich gern esse; oder wie ich mein Haar kämme, sondern frage mich, wofür ich lebe, wofür ich zutiefst all meine Lebenskraft hinschenken möchte.“

 

In der post-aufgeklärten Gesellschaft ist Religion reduziert worden zu einer privaten Frömmigkeit. Sie wird noch als ein schönes Hobby betrachtet, aber man würde überhaupt nichts verlieren, in der Gleichgültigkeit zu ihr zu sein.

Dass der Ruf des Heiligen im Kollektiv seine Dringlichkeit verloren hat, ist eigentlich eine Chance. Die Initialzündung dazu darf nämlich nie die Anpassung sein, sondern immer ein eigenes tiefes Erfragen. Man ist aufgefordert, auf der Suche, ein Pilger zu sein, der seinen Weg zu finden hat, welcher auf keiner Karte verzeichnet ist. Die vor ihm liegende Spur ist noch jungfräulich und unberührt. Der religiöse Mensch erlebt jeden Augenblick als neu und ist umso mehr erfreut, wenn er darin das erregend Schöne einer persönlichen Entdeckung und zugleich die Tiefen eines bleibenden Schatzes findet, den seine Glaubensvorfahren an ihn weitergegeben haben. Auf jeden Fall aber bleibt jeder Schritt immer eine Überraschung.

 

Manchmal kann es lange Zeit des Fragens bedürfen, bis man kleinste Splitter einer Antwort erhält. Rainer Maria Rilke schreibt in einem Brief an einen jungen Dichter, dass er auch lernen darf, mit ungelösten Fragen leben zu lernen…
"Ich möchte Sie bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu
versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht gleich nach
Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten.
Und es handelt sich immer darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht
leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein."

Manchmal gehen wir in der Nacht durch die Wälder. Man sieht nur zwei oder drei Meter weit mit der Taschenlampe, aber wenn man diese zwei oder drei Meter geht, taucht schon wieder neu beleuchtetes Gebiet auf. Warum muss man den ganzen Weg beleuchtet haben wollen bevor man den ersten Schritt tut?

Die Treue zur Wahrheit fordert den Schritt ins Ungewisse. In die Bereitschaft, die paar kleinen Schritte, die man nun zu tun vermag, auch wirklich zu gehen. Sich ins Unbekannte Terrain hinein zu wagen.

Ich kann nicht mehr bekommen als das, was ich suche, was ich wirklich erfrage, was ich erbete, ja erflehe.

Wenn einer denkt, gefunden zu haben, verschliesst er sich für alle heiligen Erfahrungen, die noch auf ihn warten; er blockiert sich dadurch selber für den ständig fliessenden Strom neuer Erfahrungen, die Gott ihm noch schenken möchte.

Das Stagnation des Fragestellens ist die Korrumpierung der spirituellen Suche.

In einem der Essenzverse des Bhagavatam wird genau zu dieser Haltung des Erfragens eingeladen:

 

etavad eva jijnasyam

tattva-jijnasunatmanah

anvaya-vyatirekabhyam

yat syat sarvatra sarvada

 

"Wer nach der Absoluten Wahrheit, der Persönlichkeit Gottes, sucht, muss zweifellos unter allen Umständen, überall und zu jeder Zeit und sowohl direkt als auch indirekt nach ihr forschen." (Srimad Bhagavatam 2.9.36) Diese Suche anzustacheln ist die Grundidee eines jeden inneren Weges.  

 

Die Weisheit des hörenden Menschen (das Ohr hat für viele Künstler tatsächlich die Form eines Fragezeichen) besteht darin, Fragen im Raum stehen und schwingen zu lassen. Das Erfragen zu vertiefen.

Jede Antwort weitet sich nur  in eine weitere Frage... erhöht die Dringlichkeit der Frage.

Wenn man aufhört, zu Fragen, sich innerlich zu bewegen, ist das tragischer als einen physischen Tod.

Die ewigen Fragen sind alle schon seit Jahrtausenden von den heiligen Schriften aller Traditionen beantwortet. Trotzdem müssen sie immer weiter erfragt werden. Denn es gehört zum menschlichen Wesen.

Zu Beginn des Vedanta Sutra heisst es: athato brahma jijnasa "Jetzt, wo du den seltenen menschlichen Körper erlangt hast, ist es deine einzige Aufgabe, ständig nach letztlicher Wahrheit zu fragen."

 

Der ureigenste Frageimpuls ist es, der einen die heilige Dimension erst eröffnet.

Alle Antworten, die Menschen je gegeben wurden, haben sie letztlich immer in sich selbst gefunden. Sie mussten da ein Echo generieren, damit man das Gehörte auch wirklich ernst nahm. Die Vorbereitung für dieses Echo ist das flehende Erfragen. Selbst wenn sich die Antworten auf die entferntesten Tiefen des Universums hinzielen mögen oder bis zurück zum Beginn der Schöpfung gehen, so werden sie immer durch die Aufrichtigkeit der Fragestellung in einem offenbart. Die Antwort mag moduliert sein durch Antworten, die andere vor ihm gefunden haben, aber es bedarf immer das Aussenden des eigenen Fragestrahls.

Wir wissen dies eigentlich, doch verdrängen wir es auch. Es ist so viel bequemer, Fachleute zu fragen, Wissenschaftler, Spezialisten oder Gurus. Doch werden wir durch ihre Antworten immer abhängiger und verlieren die Würde ureigenster Freiheit. Immer konditionierter. Immer mehr von Antworten des Aussen geprägt.

Die Gesellschaft ist süchtig nach zuständigen Menschen und deren Antworten.

Jahrhundertelang glaubte man, die Kirche könne unsere Antwortsucht im Aussen stillen. Als die Mehrheit der Menschen das Vertrauen in diese Institution verlor, haben sie gleich eine neue Kirche installiert: die Wissenschaft. Auch diese kann diese Sucht nicht stillen. Werden wir noch eine dritte Kirche inthronisieren oder werden wir realisieren, was wir doch ohnehin wissen: Frage dich selbst und lass die Fragen tief eindringen in dich. Erst das dringlich fragende Herz erfährt die Antwort von innen her.

Das aufrichtige Erfragen initiiert einen Offenbarungsprozess.