Hermeneutik
Ich beschäftige mich in letzter Zeit
damit, wie spirituelle Inhalte, Worte Gottes, mehrere Interpretationsmöglichkeiten beinhalten, die alle richtig sind und Wert innehaben, und trotzdem hierarchisch geordnet sind.
In den vielen Jahren, in denen ich
unsere sastras zu verstehen und auch anderen zu erklären versuche, ist mir aufgefallen, dass uns eine Hermeneutik fehlt.
In der Hermeneutik (von griech.
hermeneuein, auslegen, interpretieren) geht es darum, eine Grundlage zu haben, wie Dinge verstanden werden sollen, eine Auslegungskunst.
Es ist die Lehre vom Verstehen. Das
Nachdenken über die Methoden, Möglichkeiten und Grenzen, den Sinn einer Aussage oder einer ganzen Lehre zu erfassen.
Es ist das Erkennen des Sinns (der
Bedeutung) von etwas. Das Verstehen eines Zeichens, etwa eines Wortes oder geschriebenen Textes (im Gegensatz zum bloßen Hören eines Lautes oder Sehen von Farbflecken); den Zweck einer Handlung
(im Gegensatz zum bloßen Wahrnehmen physischer Bewegung) ist immer komplexer und vielschichtig interpretierbar.
Da Verstehen die Einsicht in den Sinn
von etwas ist, muß sich eine Methodik des Verstehens, eben die Hermeneutik, notwendig mit der Forschung des letzlichen Sinns von allem verbinden.
Wenn ich einen fremden Text lese,
begegne ich dort einem fremden Sinnhorizont; und das Verstehen liegt darin, daß mein eigener und dieser fremde Horizont miteinander verschmelzen und sich so ein neuer Bedeutungsrahmen für die
Auslegung des Textes ergibt.
Zum Beispiel gibt es eine juristische
Hermeneutik, die die grundsätzliche Schwierigkeit in der Gesetzesauslegung untersucht, ein allgemein gültiges Gesetz auf den besonderen Einzelfall anzuwenden.
Im spirituellen Leben besteht das
Hauptproblem der Hermeneutik darin, wie eine göttliche Offenbarung von Menschen überhaupt verstanden werden kann, oder umgekehrt, wie aus der von Menschen niedergeschriebenen und überlieferten
Offenbarung der ursprüngliche göttliche Wille unverfälscht wieder herausgelesen werden kann.
Die sastras haben einen besonderen
Wahrheitsgehalt, zu dem es vorzudringen gilt, der aber nicht immer so sichtbar vor uns liegt. Das Bhagavatam bezeichnet dies auch als paroksha vada.
In der Bhagavad Gita sagt der Herr,
dass man sich nicht verwirren lassen soll von der blumigen Sprache der Vedas, und er fordert Arjuna auch auf , sich darüber zu erheben.
paroksa-vada rsayah
paroksam mama ca
priyam
„Die vedischen Mantras sind paroksha,
in geheimer Sprache verfasst. Ich bin sehr erfreut durch solche vertraulichen und versteckten Beschreibungen.“ (SB 11.21.35) siehe auch SB 11.3.44
Die heiligen Offenbarungen können
auch als der Ausdruck der Psyche, des Lebens und der geschichtlichen Epoche des Verfassers aufgefasst werden, und das Verstehen von ihnen müsste dann gleichgesetzt werden mit einem Wiedererleben
und Einleben in das Bewußtsein, das Leben und die geschichtliche Epoche, der die Texte entstammen.
Eine Aussage ist kein objektiv
gegebenes, von allen gleich verstandenes Ding, sondern an die Umstände (historisches und soziales Umfeld, vergangene Samskaras, Ausbildung, Weltschau) gebunden.
Alles Verstehen ist sowohl vom
Verstandenen (vorhergehendes Wissen, das man aufgenommen hat) wie vom Verstehenden abhängig.
Bevor man philosophische Punkte
diskutiert, sollte eigentlich ein System der Hermeneutik existieren. Die erste Aufgabe oder Herausforderung an systematische Philosophen, ist eine Methodik
herauszukristallisieren.
In der Vedanta Schule werden
Prinzipien der mimamsa und nyaya Schulen integriert. Madhva formulierte ein so präzises philosophisches System, das praktisch unwiderlegbar ist. (So haben es mir die Brahmanas in Udupi
erklärt).
Nicht-vedische Philosophen versuchen
auch axiomatische Prinzipien in der Wahrnehmung von Wissen herauszuschälen, auf die sie dann ihre Theorien aufstellen.
Praktisch bedeutet dies nun, dass wir
untersuchen und definieren müssen, wie man guru, sadhu und sastra verstehen kann.
Zum Beispiel muss man unterscheiden
lernen zwischen ewigen Anweisungen (sogenannten axiomatischen Wahrheiten) und zeit-, ort-, und Umstände- gemässen Anpassungen und Interpretationen. Man muss genau verstehen, welche der unzähligen
Anweisungen der sastras anwendbar ist in jeder spezifischen Zeitepoche.
Zudem muss man verschiedene Ebenen
der Wichtigkeit der Anweisungen der Schriften herausschälen.
(Zum Beispiel haben unsere
vergangenen Acaryas fünf hierarchisch geordnete Wichtigkeitsebenen nur in der Bhagavad Gita definiert:
1. Generelle
Unterweisungen
-6.17
-2.27
-2.11
-2.69 (die in der Welt Absorbierten
schlafen für alles, was mit der HPG verbunden ist, und die sadhus schlafen für die Genuss-sucht der bedingten Seele)
-wir sind nicht
Körper
-etc.
2. guhya (geheimnisvolle
Unterweisungen) brahma-jnana
-18.54
-14.22-25
-neutral zu den Dualitäten in dieser
Welt
3.guhyatara (geheimnisvollere
Unterweisungen) paramatma-jnana
-5.9
-3.27
-5.14
-13.30
-9.24
-13.3
-18.61
-13.23
-Gibt zwei Arten von Lebewesen: ksara
und aksara
4. guhyatam (noch geheimnisvollere
Unterweisungen) bhagavan-jnana
-7.7
-9.10
-10.8
-ganzes neuntes
Kapitel
Reine bhakti ist dort gegeben, aber
noch kein rasa. Die Verehrung Narayanas
5. sarva guhyatama (die
vertraulichste Unterweisung)
-18.65
Voller bhava und rasa, Verehrung von
Syamasundar)
Wie werden die sastras in unserem
sozialen Kontext verstanden? Wie kommen sie an im Begriffs-und Verständnisvermögen des modernen Menschen?
Für dies wären eigentlich Acaryas von
nöten, aber die sind nicht so einfach produzierbar.
In ihrer Absenz bleibt uns nicht
anderes übrig, als dass ernsthafte, gelehrte, klarsehende Vaishnavas zusammenkommen, beten und diskutieren, und dass so Antworten geschenkt werden können.