Ich-Gedanken


(Erst wenn die Rolle der äusseren Identifizierung erkannt wird, öffnet sich ein Licht zur effektiven Identität. Mit „ich“ bezeichne ich im Folgenden die karmische Identifikationsrolle)

 

Die Menschen berühren das Leben nur sehr selten. Meist befinden sie sich fest in den Fängen des geschlossenen Systems, bestehend aus Ich-Gedanken, Bildern, Gefühlen, Erinnerungen, Hoffnungen und Empfindungen. Erstaunlicherweise glauben die meisten Menschen daran, das dies das Leben sei, oder zumindest in Berührung mit dem Leben.

 

Wenn man innerlich das Gefühl hat, mehr zu wiegen als eine Feder, so trägt man eine Last, die einem nicht gehört. Und erstickt unter dem Gewicht, das schwerer wiegt als ein Fels: es ist das Erleben der drei Buchstaben i, c, h. 

 

Das Ich hat alles in Besitz genommen: meine Beziehung, meinen Partner, mein Kind, meine Gedanken, meine Gefühle, mein Haus, mein Güter, meine Welt. 

Hat man sich selber wirklich schon einmal die Wahrheit darüber gesagt, wie man sich fühlt mit all diesem Besitz?

Mit Sicherheit schwerer als eine Feder. Alles, was sich innerlich schwerer anfühlt als eine Feder, ist eine unnötige Last. Einen Moment innerlich ohne Besitz zu sein – das ist ein Moment von Unschuld, ein Moment von Freiheit, nach der wir doch in all dem Mühen um Sicherung des Ichs paradoxerweise suchen.

 

Die innere Begrenzung des ich-bezogenen Denkens ist zu unserem Zuhause geworden. Wir haben uns eingerichtet in dieser Gefängniszelle. Auf dem Tisch steht ein kleiner Strauss mit Plastikblumen, an der Wand hat man ein Bild aufgehängt, die Gitterstäbe sind nun durch Gardinen verdeckt. Vielleicht liest man gerade ein spirituelles Buch, während man gemütlich auf der Pritsche liegt. Was ist unser wahres Zuhause?

 

Die bedingte Persönlichkeit, das Ich, glaubt tatsächlich, dass das Leben ohne es nicht auskommt. Spiritualität beginnt im Akzeptieren, dass diese geglaubte Persönlichkeit, das Ich,  für das Leben völlig unbedeutend ist. Das Leben interessiert sich nicht für das Ich, für seine Dramen, seine kleinen Geschichten, seine Meinungen, seine Lebensweisheiten. Diese Bedeutungslosigkeit widerstandslos anzunehmen, ist befreiend.

Doch dieses Leben ist sehr wesentlich für unser tiefes Selbst. 

 

Das Ich versucht alles, um zu überleben. Es setzt sich immer neue Grenzen, um nicht in der Grenzenlosigkeit zu verschwinden, um den Moment der vollkommenen Hingabe zu Radha Krishna zu meiden. 

Stell dir vor: Zufällig triffst du Krishna auf der Strasse. Erschrocken sagst du zu ihm: „Jetzt nicht, später. Ich habe noch viel zu erledigen.“

Glaubst du, er antwortet dir: Kein Problem, schau doch einfach später noch mal vorbei.“?

 

Kaum geschieht die erste Einsicht, geschieht im nächsten Augenblick bereits wieder die Landung, die Aneignung, die Inbesitznahme in die Struktur des ich, und der Glaube von „Ich habe etwas gefunden“ bis zu „Ich bin erleuchtet.“

 

 

Weil die Menschen sich dort aufhalten, wo die Gedanken sind, also entweder im Mentalen, im Emotionalen oder im Körper, sehen sie das eigentliche Selbst, die Seele, nicht. Sie vergessen das Selbst und fangen an, an den Gedanken zu leiden, an den Emotionen und an der Begrenztheit des Körpers. All das sind Erschaffungen eines einzigen Gedanken – des Gedankens „Ich“. 

Und dieser Gedanke ist es, der sterben muss, aber nicht in dem Sinne, wie irgend etwas, was real existiert, stirbt. Er keine Realität – nicht für jemanden, der sieht, und nicht für jemanden, der weiss.

 

Die eigene persönliche Geschichte ist wie ein Märchen, das einem vorgelesen wird. So, wie man im Märchen die schönen und hässlichen Passagen gleichermassen geniesst, weil man weiss, dass sie nicht real sind, genauso erlabt man sich an seiner eigenen Geschichte, denn auch sie ist nicht real, da sie nur in der eigenen Vorstellung existiert und ein Protagonist hat, den es gar nicht gibt – das kleine Ich.

 

Was der Mensch für seine Taten hält, für seine Erfolge sowie für seine Misserfolge, für seine Erfahrungen, sein Leben, seine Geschichte, das, was er für ich hält, all das ist ein Gebäude, das keine wirkliche Substanz in der Realität hat. Alles, was keine Substanz in der Realität hat, wird früher oder später so erschüttert werden, dass es in sich zusammenfällt. (Bhagavad gita 2.16)

 

Die meisten Menschen verbringen ihre Zeit damit, innere Löcher zu stopfen – die Sehnsucht nach Sri Krishna mit Dingen der Welt zu substituieren - , aber sie können nie gestopft werden. Diese Sisyphusarbeit betrachtet man dann noch als seine Lebensaufgabe. Innere Löcher sind dazu da, damit wir in sie hineinfallen können. Es ist dies der Urdrang zur Hingabe. Im Hineinfallen in dieses unbekannte Leben der Hingabe erfährt der Mensch die grösste Sicherheit und eine Geborgenheit. Es ist das Aufgehobensein in der Wirklichkeit.