Latente Ungewissheit
In der ganz dünnen Schicht unseres Wachbewusstseins, das wir für unser “ich” halten, denken wir, wir würden die Welt wahrnehmen. Aber neun Zehntel des Eisberges stehen unter Wasser. Die meisten Abläufe in unserem Inneren geschehen ohne die bewusste Entscheidung des gegenwärtigen „Ich“.
Dieser Schatten meiner eigenen Vergangenheit, meiner Samskaras (der Eindrücke meiner vergangenen Leben) begleitet die Seele und ist in den Entscheidungsprozessen von gewichtigem Einfluss. Das Koordinatengitter menschlich bedingten Verhaltens, unsere Einordnungen in "richtig", "falsch", "gut", "schlecht", spielen sich vielmehr auf der Ebene fluktuativer Empfindsamkeiten ab, als wir uns eigentlich eingestehen wollen.
So leben wir fremdgesteuert von der eigenen Vergangenheit einen Grossteil unseres Lebens praktisch schlafend, nicht proaktiv auf das Handeln hinzugehend. Und unser Verstehen bleibt dementsprechend reduziert und partiell. Und mit jedem Erkenntnisbrocken kommt gleichzeitig ein grosser Schatten mit, der missinterpretiert, der verzerrt und entstellt, der verwechselt und das kleine Erkennen gleich wieder verworren macht.
Das wahrnehmende Bewusstsein ist ja bereits nur eine ganz dünne Schicht über dem Unterbewussten, welches ganz massgeblich diese Wahrnehmung prägt und was immer es aufnimmt, es wird sofort gefiltert durch das drohende Gewicht des Schattens.
Und so glaubt und denkt man, man hätte Einsicht, man hätte etwas verstanden, man sei am Erwachen, aber es ist nichts anderes als ein erneutes Missverständnis. Die Komplexität wächst nun aber: nun ist man in der Illusion, die Illusion überwunden zu haben.
Deshalb ist die Beobachtung der Funktionsabläufe im Unbewusstenten essentiell, da sonst alles vermeintliche Erkennen nur wieder ein erneutes Missverstehen beinhaltet und da hinein mündet.
Die Sonne des Sadhana wird viele bisher unerwünschte Anteile meiner materiellen psychischen Hülle bewusst machen, und es braucht „dhirata“ (BG 2.13), Ruhe in der spirituellen Verankerung, dass man diese erkannten Wesensanteile nicht gerade wieder verdrängt und somit wieder dem Schatten zuordnet.
Im Alltagbewusstsein in der Umgangswelt denken wir, dass wir manchmal etwas missverstehen, dass wir aber doch das meiste Erkennen und verstehen.
Sat-Sang, Gemeinschaft mit Heiligen, lässt uns das Gegenteil diagnostizieren: auch wenn man im spirituellen Leben meint, etwas verstanden zu haben, ist es mit grosser Wahrscheinlichkeit einfach ein erneutes Verkennen.
Diese Missdeutung und Verfälschung geschieht eben aufgrund des riesigen Schattens, den wir mit uns tragen. Ohne dieses Handycap wäre jegliches spirituelles Bemühen eine Einfachheit.
Dieser dicke Filter unserer eigenen selbstverursachten Vergangenheit kreiert auch im Heiligsten wieder Dunkelheit.
Alles Verstehen, jede Verwirklichung wird dadurch verzerrt und es untersteht nicht einmal der eigenen Kontrolle, es nicht zu verzerren.
Aber was man tun kann, ist, dies einzugestehen, dieses Phänomen anzuerkennen, die Achtsamkeit vergrössern, dass der verzerrende Teil des Unterbewusstseins verkleinert wird.
Erst im Licht des Gewahrwerdens, in konstanter Aufmerksamkeit löst sich der Schatten allmählich auf, der ja genau aus der Unaufmerksamkeit besteht.
Erst in der vollkommenen Bewusstheit und Wachheit wird dann das Missverständnis ausgeschlossen. Der Erwachte erst versteht wirklich. Und bis dahin ist die Erkenntnisfähigkeit gefärbt und getrübt, das Wissen auch immer noch teilweise Täuschung. In der Annahme und der Akzeptanz dessen wird das Ego geringer, da es sich einzugestehen hat, dass all sein Verstehen sehr relativiert wird von einem gleichzeitigen Missverstehen. All das, auf das sich das Ego behaupten möchte, ist gar nicht so gesichert. Das Ego verliert seine Sicherheit, wenn es sich eingestehen muss, dass all seine Annahmen Eventualitäten sind. Es wird durchlässiger. Auf jeden Fall wird man einfacher und unschuldiger und in der Unschuld wird die Meditation erst möglich.
Wenn die Widerstände gegen die Ungewissheit meiner Wahrnehmung und meines Verstehens sich auflösen, wird man offener und sensibler für die Möglichkeiten, die sich ausserhalb meines gegenwärtigen Verständnisses befinden. Man wird weniger bestimmt, und festgesetzt, denn der Wissensstand ist noch nicht definitiv. Die arrogante Sicherheit löst sich auf, die gerade im Religiösen den eigenen Zugang zur Wirklichkeit blockiert.
Wenn jemand verliebt ist in eine andere Person, fällt es enorm schwer zu sagen: „Es besteht die Möglichkeit, dass ich dich liebe. Ich liebe dich vielleicht“ Aber es entspricht der Wahrheit, denn im momentanen Zustand kann nicht mehr gesagt werden. Denn wie oft dreht sich diese sogenannte Zuneigung in ganz kurzer Zeit in Hass um.... Wieso der dünnen Spitze des Eisbergs unseres Oberflächenbewusstseins gerade ganz vertrauen? Im nächsten Moment kann die Entscheidung wieder ganz anders aussehen, da im riesigen Bereich des Schattens noch ganz andere Informationen verborgen liegen, die das Handeln dann gezwungenermassen prägen werden.
Ein grosser buddhistischer Heiliger, Mahavira, benützte auch als erleuchtete Seele das Wort “vielleicht” “wahrscheinlich” in jeder Antwort, die er den Fragenden gab, was natürlich jede Aussage relativierte.
Aus diesem Grund hatte er nicht viele Schüler, denn die bedingte Seele möchte Gewissheit, auch wenn es in ihrem Zustand gar nicht möglich ist. So lässt der Wunsch nach Sicherheit alles Gehörte zu einem Konzept versteifen, was die Erfahrbarkeit, die Verwirklichung des Verständnisses natürlich verunmöglicht.
Die Menschen sind schon in einer unsicheren Existenz, in einem ungewissen Leben. Und aus dem heraus will man ein klares und absolutes Glaubenssystem.
Deshalb spricht Krishna in der Bhagavad Gita davon, dass man für die Begegnung mit der ewigen Wahrheit (sanatan dharma) alle Hoffnung aufgeben und alle Schein-Sicherheiten hinter sich lassen muss (sarva dharman parityaja).
Mahavira vermittelte keine Konzepte (das ist ein wichtiger Ansatz im Buddhismus geblieben). Als ihn jemand nach Gott gefragt hat, antwortete er: „Vielleicht“. Aber wenn man ein Gott verehren möchte, der ein „Vielleicht“ ist, dann würde auch das Gebet zu ihm zu einem „Vielleicht“ werden und das gesamte Glaubenssystem, seine Religion wäre eine Idee der Relativität. Aber in den konfessionellen organisierten Religionen sind „vielleicht“ und „aber“ gebannt.
In aller Verwirrtheit und Konfusion des Alltags will der unernsthafte Gottsucher nun einfach Gewissheit und Sicherheit. Er will sich nicht der ewigen Suche nach Gott ausliefern, die ihn zunächst einmal noch in viel existentiellere Unklarheit hineinbringt, in der dann alle bisherigen akzeptierten Grundlagen auch noch zerfallen.
Und so mag der Ursprung des Glaubens noch so heilig und transzendental sein, aber er sucht ja nur ein kleinliches Festhalten, ein verbürgerlichtes Glaubenwollen, das ihm Sicherheit und Schutz, Gewissheit und Sorglosigkeit, letztlich eine Rechtfertigung für seine Anhaftungen im Leben vermittelt - ein gerettetes Leben als eine Bürgschaft für ein gutes Gefühl.
Er will nur ein Gott, der ihn, seine Familie und sein Weinkeller beschützt, und zu dem er beten kann, wenn er gerade nicht mehr weiter weiss und wenn es ihm gerade schlecht ergeht – und will sich nicht von ihm erschüttern und entwurzeln lassen.
Hätte er den Gott nicht, würde er sich einfach verloren und einsam fühlen. Und dafür soll Gott nun sein magisches Pflaster werden.
Echte Heilige geben nicht oberflächlichen Trost und illusionären Mut, sondern zerstören ihn. Sie vermitteln nicht Behaglichkeit und Wohlergehen, sondern eine radikale Kehrtwende, in der man sich selber verliert. Srila Sridhar Maharaja sprach immer wieder davon, „zu sterben, um zu leben“. Wir haben Angst davor.
Wenn wir dieser Angst nicht begegnen, wird die ganze Spiritualität ein Ausweichen vor der Wirklichkeit, ein Einnisten in einer erneuten Illusion – die nun aber noch viel schwieriger zu durchschauen ist, da man ihr einen heiligen Deckmantel umlegte.
Die echte Spiritualität setzt sich bereitwillig dem Vakuum der Ungewissheit aus, und darin wird man zu einem wahren Sucher.
Man ist bereit, selbst alle bisherige Erkenntnis in Frage zu stellen, sämtliche angewohnte Denkvorgänge kollabieren zu lassen. Und es bereitwillig einstürzen lassen. Man will nicht Scheinsicherheit, sondern Wahrheit, und für die müssen alle Hoffnungen und Erwartungen und Ansprüche hinfällig werden.
Es braucht eine Bereitschaft für die Totalität, sonst wird man weiterhin einfach nur kleine Einsichten haben.