Nachiketa - eine Erzählung aus der Katha-Upanishad

Naciketa ist ein junger Mann, Sohn eines reichen Kaufmanns, der sich nach dem Tod mehrerer Freunde der Zeitweiligkeit des Lebens bewusst wird. Er erkannte, zu welcher Oberflächlichkeit weltliches Streben führt, wenn es von spirituellem Verständnis abgetrennt wird. Es ist dann ein sinnloses Sich-im-Kreise drehen im Missverständnis, Glück hinge von erworbenem Besitz ab.

Als sein Vater von einem Brahmanen um eine grosse Spende an den Tempel ermuntert wird, damit er sich nach diesem Leben eine gute Wiedergeburt sichere, reagiert Nachiketa mit Entsetzen. „Wie kann Tugend und Verdienst unter grossem Pomp erkauft werden? Und die ganze Stadt sieht zu... Ist hier nicht ein Widerspruch von den ewigen Gesetzen (dharma) und den von Menschen zu heiligen Gesetzen erhobenen Unsinnigkeiten?“

Der Tag kam. „Ich spende mein Vieh, mein Gold, alles, was von Wert ist, den Priestern des Tempels“, sprach der Vater das Sankalpa (Verkündigung).

„Alles, was von Wert ist? Das ist lächerlich!“, begehrte Nachiketa auf, „und was ist mit mir, deinem Sohn?“ Auf diese öffentliche Beleidigung hin wurde Nachiketas Vater wütend: „Dich spende ich auch, und zwar dem Tod!“ Nachiketas Augen blitzten und er erwiderte: „Gut!“ Dann ging er.

Die Ernüchterung hat Nachiketa zur Initiation aufgerufen und der Wille ist erwacht, sich von jeder Oberflächlichkeit zu verabschieden. Die vermeintliche Substanz, welche man zu finden glaubt in Eltern, Partnern, Staat und Religion löst sich im genauen Betrachten auf. Die Scheinheiligkeit des Priesters wirkte als Schicksalsschlag zu Vernunft; war also eine geschenkte Gelegenheit zur Treue zum eigenen Selbst.

Institutionalisierte Religion bietet Schutzimpfungen gegen das Unbekannte (Spenden für die Absolution), da das Verkonzeptionalisieren das Staunen und Erschüttern vor der Wirklichkeit untergräbt und die ganze religiöse Erfahrung zu einem secound-hand-Nachleben reduziert, dem es am Erleben fehlt.

Nachiketa ging tief in den Wald und nahm Platz, um den Tod zu erwarten. Drei Tage und drei Nächte lang sass er aufmerksam und bewegungslos da, entschlossen, dem Tod auf die Spur zu kommen und ihm in die Augen zu sehen. Er wollte dem Tod von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.

Initiation bedeutet, die Bereitschaft, sein Leben auf das Spiel zu setzen, damit man über sich selber hinauswächst. Diesen Mut aufzubringen ist ein freiwilliger Vertrauensakt, eine selbstverantwortete Öffnung gegenüber dem umfassenderen Sinn meiner Existenz. Es heisst, weiterzugehen, ganz gleich, wohin der Weg führt – unabhängig wie sehr man die Dunkelheit auch fürchten mag. Die Neigung, immer schon alle Schrittchen vorausgeplant haben zu wollen und sie auch geplant abzusehen, ist eine verbürgerlichte Spiritualität, die in die Sicherheit, aber nicht in die Wahrheit führt.

 

Nachiketa trotzte dem Hunger, dem Schmerz, und der Erschöpfung und kam in Yamas Reich an, dem König und Richter der Toten. Dort wurde er von drei Helfern des Todes – Krankheit, Hunger und Krieg – begrüsst, die ihm erklärten, dass König Yama unterwegs sei. „Er sammelt gerade die Pacht ein.“ „Das macht nichts“, sagte Nachiketa, „ich warte.“

 

Als der Tod drei Tage später zurückkam, erzählten ihm seine Helfer von diesem ungewöhnlichen jungen Mann, der gekommen war, um ihn zu suchen. Die gesamte Welt ist auf der konstanten Flucht vor dem Herrn des Todes und nennen dies „ihr Leben“, doch dieser junge Mann harrt viele Tage lang, nur um ihm zu begegnen.

König Yama ging zu Nachiketa, sie begrüssten sich, und der Herr des Todes entschuldigte sich für sein spätes Kommen.

„Willkommen in meinem Königreich. Ich sehe, dass du für mich eine anstrengende Reise unternommen hast. Leider musstest du drei Tage warten. Zum Ausgleich dafür möchte ich dir einen Gefallen tun. Du darfst dir drei Dinge wünschen.“

 

Im bewussten und sogar mit Bemühung verbundenen Begegnen mit der Sterblichkeit erhält man Segnung.

In seiner Bereitschaft, dem Tod zu begegnen, erkannte er, was er am dringendsten benötigte. Zuallererst erbat er sich um Vergebung für sich und alles, womit er in Berührung gekommen war. „Ich möchte, dass sich mein Vater genauso über mich freut, wie am Tag meiner Geburt.“ Nachiketa wusste, dass er seine Reise nur dann fortsetzen konnte, wenn er seine Interpretation der eigenen Vergangenheit losliess und sich mit allen Unzulänglichkeiten abfand.

Vergebung ist nicht nur eine reine Willenssache; und sie ist nicht leicht. Damit man vergeben kann, hat man sich zunächst einem langen Prozess der Wut, Trauer und Reue zu stellen. Vergebung bedeutet nicht einfach, dass man begangenes Unrecht bedauert und vielleicht schwört, es nicht noch einmal zu tun. Vielmehr ist Vergebung ein Loslassen der Vergangenheit und aller damit verbundenen Emotionen. Durch ihre umfassende Güte befreit man sich vom wiederholten Austragen alter Schmerzen, vom blinden Fortsetzen der Vergangenheit. Vergeben bedeutet nicht einfach, dass man andere aus seinem Herzen verbannt. Nachiketa wusste, dass er seinen Vater nicht einfach vergessen, sondern ihn dankbar in seine Lebensgeschichte integrieren soll, wenn er auf seinem Weg weiterkommen wollte.

Vergebung geschieht nur, wenn man sich trotz allen Schmerzes den eigenen bitteren Enttäuschungen stellt und aus dieser Lernbereitschaft heraus zu grösserer Einsicht findet. Es beginnt durch das Bewusstwerden des eigenen verschlossenen Herzens und der eigenen Feindseligkeiten und dann folgt das verständnisvolle Loslassen davon.

Neuer Lebensmut ist der Segen der Vergebung, und als diese Gunst Nachiketa gewährt worden war, hatte er ein klares, offenes Herz. König Yama sah ihn an und bemerkte: „Dein erster Wunsch war klug gewählt, Nachiketa. Nun, was wünschst du dir als Zweites?“ Nach einer kurzen Bedenkzeit antwortete Nachiketa: „Ich wünsche mir von dir das Feuer der Leidenschaft.“

Nachiketa wusste, dass er nur mit äusserstem Mut und Eifer seinem spirituellen Weg treu bleiben konnte. Also wünschte er sich diejenige Stärke, die eine Suche erfolgreich macht: Enthusiasmus (utsaha), Leidenschaft, die Kraft des gesamten Herzens. Lebendigkeit, die entsteht, wenn spirituelle Ziele fokussiert werden. Das ist der leidenschaftliche Eifer, der ihn seinen Weg auch noch im Angesicht des Todes weitergehen lässt. Diese Art von Lern-und Entdeckungsfreude ist ein Hauptcharakteristikum für spirituellen Fortschritt. Enthusiasmus verwandelt jedes Hindernis und jede Schwierigkeit in einen Bestandteil der Erleuchtung und des Erwachens. Jeder Moment des Lebens hat etwas Wertvolles mitzuteilen, wenn man nur entsprechend achtsam ist, dieses Geschenk Krishnas darin auch wahrzunehmen. Es kommt der Punkt, an dem man seine Ängste und Hoffnungen, und alle Vorstellungen über die Gegenwart aufgeben muss, um für ihr Geheimnis offen zu sein. Nachiketa wünschte sich nicht die Erfüllung seines vorgestellten Weges, sondern das Vermögen der Präsenz. Und die ist nur möglich, wenn man sie wirklich wünscht, das heisst in der Begeisterung

 

Dieses notwendige Feuer oder Starksein in der Initiation darf nicht mit Ehrgeiz verwechselt werden, mit dem man sich ein Ziel erzwingt. Es ist keine Form der Manipulation um sich selbst besonders herauszustellen.

Wieder lobte der Herr des Todes Nachiketas Klugheit und gewährte ihm die erbetene innere Stärke.

 

Nachiketa war nun von den Beschränkungen des alten Konflikts befreit und voller Durchhaltevermögen. Schliesslich bat König Yama Nachiketa um den letzten Wunsch. Nach einigem Nachdenken sah Nachiketa den Tod an und sagte: „Ich wünsche mir Unsterblichkeit.“ Etwas überrascht erinnerte der Tod diesen waghalsigen jungen Mann daran, dass es doch sein letzter Wunsch sei und dass er sich alles wünschen könne. König Yama beschwor daraufhin Vorstellungen herrlicher Dinge herauf, die sich Nachiketa entgehen liesse: junge Frauen, die ihn auf seiner Reise begleiten könnten, einen goldenen Kriegswagen mit den schnellsten Pferden der Welt, einen Palast, wo Nachiketa König wäre.

Nachiketa betrachtete dies alles und noch viel mehr. „Warum suchst du dir nicht davon etwas aus?“ ermunterte ihn der Tod. Aber Nachiketa hatte Entschlossenheit, das ihm Vorgehaltene nicht mit Ewigkeit einzutauschen. Wenn man den Geruch der Ewigkeit ahnt, weiss man, dass ein Flohzirkus ein Flohzirkus ist. Also stellte er die Träume in Zweifel: „Wird nicht all das, was du mir gezeigt hast, schon bald wieder in deinen Besitz fallen, Yamaraja?“ Der Herr des Todes lächelte über Nachiketas Einsicht und erwiderte: „Ja, das stimmt.“ „Dann wünsche ich mir nur Unsterblichkeit.“

 

Da sagte Yamaraja: „Dein dritter Wunsch soll sich erfüllen. Du hast die Bequemlichkeit und Romantik der Welt aufgegeben. Nun wanderst du nicht mehr auf dem Pfad der Annehmlichkeit in der Materie, dem Pfad der Masse. Der Weg der Befreiung ist einsam.“ (Katha Upanishad 1.2.3) Und er überreichte Nachiketa – einfach und aussergewöhnlich zugleich – einen Spiegel. Wenn du das Geheimnis der Unsterblichkeit herausfinden willst, kann ich dir nicht mehr geben als das. Du bist es bereits. Und jede Wahrnehmung ausserhalb der Unsterblichkeit ist nur ein Leben an der Oberfläche des Traumes der maya.

Du selbst musst direkt in dich selber schauen. Dann musst du dir die grösste aller menschlichen Fragen stellen: „wer bin ich?“

Wer mit Sorgen und Problemen zu Ramana Maharsi kam, den sah er mit einem allverständigen gütigen Blick an, und ermutigte ihn zur Selbsterforschung: „Wer bin ich? Wer ist in diesem Körper geboren worden?“ Alle Probleme werden schon mit der Auseinandersetzung mit dieser Frage gelindert und ganz gelöst in ihrer Beantwortung.

Bin ich das wirklich? Währt es ewig?

Vorstellungen über sich selbst, Ideale und Pläne, Leidenschaften und Ängste, Vorlieben und Abneigungen, der Fluss der Sinneswahrnehmungen, die Emotionen, Gedanken und Gefühle, ja die gesamte Persönlichkeitsstruktur (ahankara) wird als das erkannt, was es ist: vergänglich, begrenzt, wechselhaft. Und man disidentifiziert sich davon, bis schliesslich das ganze Selbstkonzept abgebaut ist. Da leuchtet die Svarupa, die ewige Form der Seele durch.

„Freiheit bedeutet, alle über die ewige Seele übergestülpten Formen, mit denen man sich identifiziert, abzulegen und in der Form der Seele verankert zu leben.“ SB 2.10.1

Man erwacht aus der Identität, die man zu sein glaubte. Alle Meinungen, die man von sich hatte, die Urteile, die Probleme, das ganze fixierte Ich, die Angstkörper, werden unbedeutend im Erkennen der Form der Seele. Das hat seinen Preis. Das Loslassen der alten Identität kostet liebgewonnene Gewohnheiten und Selbtgerechtigkeiten. Man streift alles ab, bis zur nackten Ewigkeit.

 

Jede Seele muss dem Tod ins Angesicht schauen und fragen, wer da geboren ist und wer da sterben wird.

Nachiketa trat nun in die nächste Begegnung, die nach dem Tod folgt und die noch schwieriger auszuhalten ist: die Selbstergründung.

Jede Seele sucht nach der Freiheit, welche Nachiketa erfuhr. Dazu muss man sich die heiligen Fragen wirklich stellen und ihnen nachgehen, auch wenn sie einen ins Totenreich führen. Denn nur dort findet man den Segen der Ewigkeit.

 

Zum Abschied verbeugt sich Nachiketa ganz ruhig vor Yamaraja. Sein Kämpfen gegen den Tod hat sich eingestellt. Daraufhin werden aus dem Totenreich wie durch Zauberhand die Frühlings-Reisfelder seiner Heimat. So erkennt er, dass Tod und das Leben nicht voneinander getrennt sind. Und dass man, um wirklich in der Ewigkeit als Seele zu leben, auch der Wunsch nach Leben aufgeben muss, um todlos zu werden.

Sein Lebensweg wird bunt und vielgestaltig. Wohin er auch führt, es ist heiliger Grund. Als Nachiketa das zutiefst begriffen hatte, ging er nach Hause, umarmte seinen Vater und begann ein neues Leben. Das Gleiche nun mit neuen Augen betrachtet, erscheint nun als etwas Neues vor einem.

In der Katha Upanishad heisst es (2.3.18): „Nachiketa erlernte transzendentales Wissen von Yamaraja – und so erreichte er die Höchste Persönlichkeit Gottes. Er wurde frei von der Verunreinigung weltlichen Lebens. Jede Seele hat das Recht, wie Nachiketa zu werden.”