Dysfunktionale Religion
Religion fördert das Leben. Aber Religion ist leider oft auch ein Hindernis für die Lebendigkeit. In jeder Entwicklungsmöglichkeit wohnt gleichzeitig immer auch eine Fehlhaltung inne. Im Potential existiert immer auch die Gefahr, in der Einladung die Falle, im Segen der Fluch, in der Stärke die Versuchung.
Erkennt man sie nicht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass einem die Dunkelseite zum Verhängnis wird.
Big brother
Die Allmacht Gottes kann sich zu einem disfunktionalen Gottesbild entwickeln, zu einem beängstigen konstanten Beobachtet-sein. Gott sieht alles, hört alles und kann auch die geheimsten Gedanken erkennen. In der Kinderwelt sieht es dann so aus, dass man sich elend fühlt, weil Gott einem lauernd und ohne Pausen des Erbarmens zusieht, zuhört und mit Gedankenlesen beschäftigt ist.
Gott wird dann zu einem moralischen Regulativ reduziert, zu einem Normenerhalter, dessen Empfindlichkeit so ausgeprägt ist, dass ihn schon Kleinlichkeiten traurig und unmutig stimmen lassen.
„Herr, erhebe dein Antlitz über uns“… als gäbe es keine grössere Sehnsucht, als immerzu Gottes ewig kontrollierendes Wirken oberhalb sich zu wähnen.
Wie entwickelt sich der Mensch in einem solchen bedrohlichen Gottesbild?
Kompetenz und Verantwortungsgefühl werden abgetreten, und das eigene Selbst auf ungesunde Weise zu einem Nichts gedemütigt, sodass es nur Existenzbefugnis hat im permanenten und übertriebenen Danken, im Lobpreis, in der Bewunderung und im Flehen um Gnade. Das führt zu einer erzwungenen und verkrampften spirituellen Übung, die in einem Zwang existiert, Gott aus Angst vor der Verbannung gütig stimmen zu wollen.
Es existiert eine fundamentale Unsicherheit, ob man nicht die einem nicht einleuchtenden Regeln verletzt hätte, ob man nun nicht die Sympathien verloren hätte und sich den starken Unmut Gottes zugezogen hätte.
Gnade
So bleibt einem das Flehen um Gnade.
„Jeden Tag den Herrn um Gnade bitten und sich von ihm beschenken lassen. Amen.“
Die Gnade sei wunderbar und unerschöpflich und wie froh und dankbar darf man sein, dass man immer wieder eine Chance hat, sie zu erlangen, auch wenn noch so viele Verfehlungen auf einem lasten.
Gott hält sein Antlitz nie endgültig von einem ab, aber doch genug lange, um einem in der Angst und in der Furcht zu behalten. Man soll Gott fürchten und lieben.
Diese Mischung ist auch immer mit Hass verbunden. Aber der Gotteshass führt einen ganz unmittelbar in die Verdammnis und so hat man noch mehr Angst. Man wird noch demütiger und dankbarer, dass der Verwurf noch ein wenig herausgezögert wurde.
Die disfunktionale Religion vermittelt, dass Gott verständnisvoll, gütig, gerecht, lieb und barmherzig ist – allerdings mit dem Hintergrund düsterer Strafen. Das bringt den Glaubenden in die Lage einer keuchenden Ratte, die in ihrer Tretmühle in wachsender Panik immer schneller rennt. Die Strafe Gottes macht aus einem ein ausgejagtes Tier in einem Experiment ohne Ausweg. Die Herzensstille, den inneren Raum der Begegnung wird genau durch die Angst, die aus einem ungesunden Gottesbild herrührt, zugeschüttet. Die Angst wird dann natürlich noch gerechtfertigter sodass man denkt, man müsse noch mehr um Gnade betteln.
In der Bhagavad gita (15.7) versichert Krishna der Seele, dass sie mama-amsa, von Natur her sein Teil sei und ihm deshalb auch natürlicherweise zugehörig.
Wieso also das verkrampfte Betteln um Gnade? Darin steckt die Verheissung des Auserwählt-seins.
Auserwählt sein
Religion kann den Stolz und Grössenwahn nähren,
Dafür bringt man schreckliche Opfer dar, wie die Fröhlichkeit, die Lebensfreude und das individuelle Freiheitsgefühl.
Sie sind der Preis für den Erwählungsvertrag. Der Lohn ist die Steigerung des Auserwähltheitsgefühls und das so an Bedingungen geknüpfte Gefühl, geliebt zu werden und dadurch weniger verstossen zu sein.
In den religiösen Präsentationen wird immer erwähnt, dass Glaube ein Geschenk sei, für das es oft lange Prüfungen zu durchleiden gebe. Man dürfe nicht erlahmen in der Anrufung, im Gebet, denn bei Gott verhalle kein Ruf ungehört.
Dann denkt man: wenn Gott so lange schweigt und einem so ein quälendes Suchen und Warten zumutet, dann muss er ganz grosse Pläne mit einem haben.
Anstatt ins Seelenbewusstsein, in die Selbsterkenntnis, führt dann die Religion in den Grössenwahn. Diese religiöse Ego-Inflation (Aufblähung) des Gefühls besonderer Auserwähltheit lässt die inneren Opfer, die man bereit ist zu geben, immer kostbarer werden und man investiert immer mehr. Der egoistische Gegenwert der religiösen Aufblähung lässt die Umstände der Verehrung erträglicher werden. Das narzistische Bedürfnis der Besonderheit, welches bis hin zum Wahn ausgedehnt werden kann, wird von der oberflächlichen und disfunktionalen Religion verdeckt als das Angebot der Geborgenheit, Führung und Aufgehobenheit. Zur Erwählung gehört, dass man bei Gott, jenseits aller Selbstzweifel und Identitätskämpfe einen sicheren Platz, eine gesicherte Identität hat. Man hat seine Wahrheitssuche korrumpiert mit dem Sicherheitsbedürfnis, das bis hinauf auf Gott verlagert wurde. Aus der angstlosen Suche nach Wahrheit wurde das Schmeicheln eines kindlichen Narzissmus, ein Gefangensein in der Einfalt und Infantilität des Ego.
Es braucht viel Aufrichtigkeit, sich die religiöse Verführung des Bedürfnisses nach Einzigartigkeit einzugestehen und die Beschämung der Erkenntnis, einer religiösen Illusion nachgelaufen zu sein: der Fata-morgana einer Geborgenheitsfiktion, einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einem absoluten grandiosen Gott, die noch sehr mit Angst und Drohung vermischt ist. Weil man sich vor dieser Entdeckung gewohnheitsmässig verschliessen möchte, intensiviert man oft noch die disfunktionale religiöse Praxis.
Das Ego kopiert die spirituelle Suche und verbiegt sie sehr oft in disfunktionale Religion.
Die Sehnsucht nach Führung, Versorgung, ja Fütterung, Tränkung, Schutz und Beschenktwerden sind frühkindliche Bedürfnisse, die man in der Unversöhntheit und den Enttäuschungen der Welt auf Gott hin projiziert.
Aber wenn Gott als ein immer verfügbarer Ersatz für menschliche Bedürfnisse feilgeboten wird, resultiert nicht die gesunde Verankerung in der ewigen Seele und dem von äusseren Zwängen befreiten Gottesbezug, sondern eine von aussen hin erzwungene Dringlichkeit bei Gott.
Wenn einem das Zurechtkommen auf der Welt zu schwer vorkommt, dann nimmt man sich die Kompensation Gottes für seine innerweltlichen Bedürfnisse und singt heiter:
„Seele, was ermüdst du dich
in den Dingen dieser Erden,
die doch bald verzehren sich
und zu Staub und Asche werden?
Suche Jesu und sein Licht,
alles andere hilft dir nicht.“
Dysfunktionale Affinität für Gott erwächst aus den Hohlräumen sozialer Ohnmacht und gesellschaftlicher Sinnlosigkeit, erblüht aus der Lebensangst, aus der Ungeborgenheit und dem inneren Vakuum, das einfach nur wieder gefüllt sein will. Andere konsumieren Drogen, um die Leere zu überbrücken.
In solchen Fällen ist die Auseinandersetzung mit Religion mehr Gefahr als Segen, da die Tendenz des Festhaltens im Letztendlichen noch schwieriger zu Durchschauen ist und Ähnlichkeit aufweist mit dem Grundvertrauen.
Das Resultat ist nicht gesunder Transzendenzbezug, der das Bisherige relativiert, sondern ein „Gottestrip“, der effektiv alle Ähnlichkeit mit einer Sucht aufweist. Diese sentimentale Berauschung wirkt auf die verwirrte und verzweifelte Person ein, die vorübergehend die Orientierung verloren hat.
An diesem Punkt ist man natürlich empfänglich für Vertröstung im Jenseits durch negative Bewertungen dieser Welt.
Die vergängliche materielle Welt ist einfach eine Ergänzung, ein halbwirklicher Anhang des Gottesreiches, ein Jammertal, in dem es im wesentlichen um moralische Bewährung geht.
Der religiöse Mensch tut dann viel, Gottes Ungunst zu vermeiden, und versucht, ihn milde zu stimmen. Alles ist Wiedergutmachungsforderung.
Resignation und Wertlosigkeit sind die Grundgefühle, von denen eine Lähmung aller Initiative ausgeht, da alles in diesem Jammertal irdischen Tuns absolut vergeblich sei. Der einzige Trost kommt aus dem Jenseitsversprechen. An diesem Punkt wird die Religion mehr Gefahr als Segnung, da selbstentfremdete Individuen plötzlich zu Dingen bereit werden, wo ihnen ihr innerstes Gewissen eigentlich ein Verbotsschild zeigen würde.
In der Angst des Verworfenwerdens, wenn man sich nicht Gott zuwendet, übergeht man sein Innerstes und lebt eine Selbstentfremdung im Namen der Selbstverwirklichung. Da wird die Religion zur angstmachenden Drohung anstatt der liebenden Einladung.
Angst vor der Auseinandersetzung mit Zweifeln
Diese Versuchungen der Religion fallen in ihren unauffälligen Formen vorerst nicht so leicht ins Auge, weil sie ein Vexierbild darstellen. Die innere Gewissheit, von Gott beachtet zu werden, kann umspringen in die Sicherheit, diesen Gott allein auf der eigenen Seite zu haben.
Der Einsatz für eine gerechtere Welt kann umspringen in den rücksichtslosen Kampf gegen eine böse Welt. Gottvertrauen sieht der selbstsicheren Vertrauensseligkeit zum Verwechseln ähnlich und der Fanatiker ähnelt dem Altruisten, weil es ihm ja immer nur um seine gerechte Sache geht und nie um sich selbst.
Was ist eine gute Religion? Eine, deren Anhänger und Anhängerinnen die Versuchung erkennen, die in jeder – und somit auch in der eigenen – Religion latent lauert.
Eine gute Religion gibt so elementares Grundvertrauen, tiefe Gewissheit, dass sie den Menschen unentwegt in Frage stellen kann.
Wo Religion nichts weiter gibt als Gewissheit, wird sie zur Gefahr. Die Verkrampfung des oberflächlichen Glaubens lässt die Infragestellung nicht zu, da man zutiefst eigentlich weiss, nicht in der Wahrheit zu sein.
Es kann schnell geschehen, dass eine religiöse Atmosphäre entsteht, in welcher man Zweifel und Auflehnung, welches die beiden wichtigsten Tore für Vertiefung sind, nicht mehr ansprechen kann und darf. Den Gebrechlichen schlägt man nicht die Krücke weg. Auf diese Weise wird man zu einem stillen religiös süchtigen Menschen und verschweigt ehrfurchtsvoll und ängstlich die wesentlichen Fragen, die das Herz bewegen. Plötzlich ist man umgeben von Menschen, die aufgrund der Schande des Verworfenseins den Gedanken nicht ertragen könnten, dass es auch ganz anders sein könnte. In einer vernichtenden Einmütigkeit in der frommen Schar werden die bisherigen Glaubensüberzeugungen immer und immer wiederholt.
Der Gedanke, dass sein gegenwärtiges Verständnis des Heiligen falsch sein könnte, erscheint so schaurig, dass man ihn dann oft nicht zu Ende zu denken vermag. Das Resultat ist eine oberflächliche imitierende Spiritualität, Entfremdung vom eigenen Denken, kollektiver Zugzwang und auf lange Sicht Atheismus. Atheismus ist dann das heilende Korrektiv für oberflächliche Spiritualität.
Das sind ein paar Gedanken zum Selbstentfremdungs-Potential in der Religion, der Schattenseite, welche in jeder wunderbarsten spirituellen Übung innewohnt.