Eine Geschichte
Stellen wir uns vor, es hätte einmal vor langer Zeit eine Religion gegeben, die „das Gute“ hiess. Ihre Anhänger nannten sich „die Guten“ und der Stifter dieser Religion wurde als „der Beste“ verehrt. Es war eine Religion für alle, die niemanden ausschloss und Liebe zum Ursprung und allen Mitgeschöpfen lehrte.
Am Anfang war – wie in jeder Liebe – alles leicht. Jeder, der von dieser Religion erfuhr, empfand das innere Angerührtsein, die Berührung des Herzens und fühlte von innen her die Inspiration, sich auch dem Guten zuzuwenden, ein Guter zu werden. Wer will schon nicht gut sein? Wer glaubt nicht, dass er gut ist und wer glaubt nicht an das Gute? Jedenfalls niemand, der einigermassen normal ist.
Daraus folgte, dass mit denen, die aus unerfindlichen Gründen nicht zu den Guten gehören wollten, etwas nicht stimmte. Es konnte eigentlich nur daran liegen, dass sie über die Religion des Guten nicht richtig informiert worden waren. Oder aber – sie waren böse! Dass die Bösen vielleicht wirklich böse waren, merkte man auch daran, dass sie sagten, das Gute sei gar nicht gut, sondern in Wahrheit böse. Wie konnte man so etwas Widersinniges behaupten?
Da sich die Guten aufgrund der Zugehörigkeit zu den Guten als gut betrachteten und nicht aufgrund des Gut-seins, entstand die Gespaltenheit zu denen, die eben nicht dazu gehörten.
Bei den Guten fühlte man sich gut und bei den anderen eigentlich heimlich bedroht und in Frage gestellt. Einige der Guten sprachen offen darüber, dass sie eigentlich unsicher sind und deshalb die Distanz bräuchten. Die Abgrenzung gab ihnen ihre Identität als die Guten.
Die Nicht-guten haben das natürlich beobachtet, dass die ritualisierte äussere Form der Guten effektiv die eigentliche Essenz verdeckte – und genau diese Dynamik schreckte sie ab und sie betrachteten das ganze Theater als eine gewöhnliche disfunktionale Machtstruktur, die aber göttlich verklärt wurde. Die Guten interpretierten ihre Vorbehalte, sich den Guten anzuschliessen, als Anzeichen, dass sie nicht gut waren.
Seit also die Guten ihre eigene Religion hatten und sich die „Guten“ nannten, gab es auch die Bösen. Wie es sich für das Böse gehört, musste es bekämpft oder irgendwie zur Umkehr gezwungen werden. Die Widerstände wurden als Vorboten einer Verdammnis verstanden.
Zu den Bösen zählte auch jene Gruppe, die sich früher selbst einmal die Guten genannt hatten. Und obwohl sie sich untereinander nach wie vor so nannten und auch verstanden, waren sie für die „Guten“ doch eigentlich böse, denn sie hatten gewisse Zweifel am Gesamt-Glaubenspacket der „Guten“. Auf ihre Zweifel und Einwände ging niemand wirklich ein, da sie ja jetzt böse geworden waren und einfach zu vermeiden sind. Es hätte zudem Risse im Glaubensgebäude geben können und da wäre man vielleicht auch noch ein Böser geworden.
Mehr und mehr Menschen bekehrten sich nun zu den Guten. Der Beste bekam einen Ruf, der seinem Namen alle Ehre machte. Der Tod des Besten hob ihn nun in eine Domäne der absoluten Perfektheit und alles, was der Beste getan und gesprochen hatte, wurde zur Maxime und zur Nachahmung empfohlen. Nur die Bösen empfanden diesen Kult als überidealisiert und nicht mehr ganz der Wahrheit entsprechend. Für sie war es eine religiöse Aufblähung, in dem die innere Führung zu stark ins Aussen verlegt wird.
Dass das Gute auch ohne das unmittelbare Wirken des Besten einen solchen Erfolg hatte, bestätigte die Guten darin, wahrhaft die Guten zu sein. Nur das wirklich Gute kann einen solchen Erfolg haben, nur das Wahre ist erfolgreich. Irgendwann in nicht allzu ferner Zeit würde das Gute auf der ganzen Welt herrschen und alle Menschen würden Gute geworden sein…
Doch als immer mehr Menschen zu Guten wurden, begannen sie, nicht mehr immer alle dasselbe Gute zu wollen und manche fingen an zu behaupten, sie wüssten, was unter allem Guten das Allerbeste sei. Aber warum sie es für das Bessere hielten, wussten sie selten zu sagen. Und wenn sie es zu sagen wussten, klang es nicht überzeugend. Es gab Konferenzen und Konzile, in welchen das Gute festgelegt wurde, aber auch Schismen und unzählige Splittergruppen, die unter dem Guten einfach etwas anderes verstanden.
In diesem unendlichen Durcheinander von Anschauungen, in dem Gewirr von Meinungen und Gegenmeinungen wussten die meisten gar nicht mehr, was sie nun glauben sollten. Das erstaunliche war, dass alle von sich behaupteten, das Gute wirklich zu kennen und die richtige Auslegungen des Guten zu haben.
Um seine Sicht zu rechtfertigen und bekräftigen, behauptete irgendwann einer, dass die anderen Meinungen überhaupt nicht mehr gut, sondern im Grunde genommen schon böse seien. Das fanden nun die derart beschimpften Guten selber ziemlich böse: Wer von den Guten sagte, sie seien böse, konnte kein Guter mehr sein, war also selber ein Böser.
Die Guten, obwohl sie an das Gute glaubten, wussten bald nicht mehr, was das Gute war. Zwar war jeder einzelne Gute nach wie vor davon überzeugt, dass er es wüsste, aber wenn er sich dann mit anderen darüber unterhielt und austauschte, musste er feststellen, dass sie etwas anderes für gut hielten. Neutrale Beobachter, die von Zeit zu Zeit das Gute betrachteten, konnten eine ungeheure Verwirrung feststellen.
Das Volk, der einfache Gutmensch, war in diesen Fragen sehr arglos, da ihnen das Gute ja als Stütze für ihr Leben diente. Er glaubte alles naiv, wenn man ihm nur versicherte, dass es so gut war und so ist. Das war der Zeitpunkt, wo es ziemlich schlecht um das Gute stand.
Dieser peinliche, den Guten und der Idee des Guten so abträgliche Zustand war den Besseren unter den Guten natürlich schon länger aufgefallen. Sie sannen nach einer Lösung. Sie begriffen: Es hilft nichts, darüber zu diskutieren, was das bessere und das schlechtere Gute sei. Jeder glaubt, die besten Argumente für seine Sicht zu haben.
Wenn wir die Religion des Guten bewahren wollen, müssen wir einen anderen Weg finden, das Gute zu bestimmen. So besannen sie sich auf den Besten. Wenn wir ihn nachzuahmen suchen, können wir nichts falsch machen. Denn niemand kann ernsthaft behaupten, er selbst wüsste es besser als der Beste. Das Gute wurde daher festgelegt, sei das, was der Beste getan und gesprochen hat – und sonst nichts.
Daraufhin sammelten die Guten alles, was sie noch vom Besten wussten. Sie überprüften, ob die Nachrichten glaubwürdig waren und wer sie vermittelt hatte. Sie stellten Untersuchungen an über die Glaubwürdigkeit der Übermittler. Sie sammelten und sammelten, und als sie genug aus dem Leben des Besten zutage gefördert hatten, beschlossen sie, es sei nun genug, und ordneten alles zu dicken Büchern. So gelang den Guten, das Gute zu definieren und für immer festzuschreiben. Und fortan machten sie alles genauso, wie sie glaubten herausgefunden zu haben, dass es auch der Beste auf diese Weise getan hätte.
Unter dem Deckmantel des Guten geschahen nun auch viele bösen Dinge, die eigentlich nur dem Eigennutz dienten. Und viele ehemalige Gute konnten nicht mehr und wollten auch nicht mehr zu den Guten gehören. Da sie die Anführer der Guten für Scharlatane erklärten, wurden sie als böse eingestuft. In dieser alten Rivalität hielten sich diejenigen, die aus der Sicht der Guten die Bösen waren, nach wie vor für gut und sogar noch als besser als die Guten.
Sie beobachteten, was die Guten unter Berufung auf den Besten taten und für gut befanden, hätte niemand, nicht einmal ein Guter, getan oder gut befunden, wenn es nicht angeblich der Beste getan hätte. Die Guten taten wegen dem Besten Dinge, die gar nicht gut waren. Nur weil er es getan hatte. Konnte das, was ungerecht war, gut sein, nur weil es der Beste ebenfalls getan hatte?
Natürlich gab es auch darin ernsthafte Geister, denen es wirklich um das Gute ging und um nichts sonst.
Die Guten glaubten tief im Grunde eigentlich nicht wirklich daran und wenn sie daran glaubten, handelten sie nicht danach. Am Ende machten sie immer das, was sie zu tun gewohnt waren und was ihnen nützte, ganz egal, ob es nun gut oder gerecht oder wahr war oder eben nicht.
Da viele Gute wirklich glaubten, im alleinigen Besitz des Guten zu sein, legitimierte dies natürlich die gewaltsame Bekehrung der Bösen. Diese dunkle Historizität der Guten liess viele Menschen die Guten verlassen und sich auf die Suche nach ihrem eigenen Guten machen. Das Thema des Guten wurde privatisiert und jeder begann, seine eigene Patchwork-Version vom Guten zu haben.
Diese Geschichte ist endlos. Wer Wahrheit hinter dem Gerede aufrichtig sucht, verlässt sie. Sie erkennen, dass das Wichtigste am Guten das Gutsein ist, das Prinzip des Guten und dies hat nicht viel gemeinsam mit dem, was die Guten gemacht haben und die Bösen bekämpften.
„Wenn deine Erkenntnis-Kraft aus dem dicken Wald der Verblendung herausgetreten ist, wirst du gleichgültig werden gegenüber allem, was gehört wurde und was noch zu hören ist (über diese Welt und die nächste).
Wenn die Vernunft nicht mehr von den heiligen Schriften verwirrt wird (von deren verschiedensten Interpretationen), und unbeirrt in tiefer Versenkung (Samadhi) bewegnungslos verharrt, erst dann wirst du yoga (die Beziehung zu Krishna) erlangen.“ Bhagavad gita 2.52-53