Gute Religion…

 

Religion ist kein Konsumartikel, sondern die Folge des menschlichen Grundbedürfnisses.

 

Alle Religionen sind Entwürfe ganzheitlicher Weltdeutung, in deren Rahmen der Mensch durch die Anfechtung des Daseins hindurch Sinn zu finden sucht – in Bezug auf die Bindung der Seele an den hinfälligen Körper, auf Endlichkeit und Tod.

 

Der Mensch steht in einer unauflösbaren Spannung zwischen körperlichen Notwendigkeiten und seelischer Sehnsucht. Dieser Konflikt bedroht sein Selbstwertgefühl aufgrund der entstandenen Zerrissenheit.

 

Aus der Angst als unverwechselbares Individuum nicht wahrgenommen zu werden, letztlich bedeutungslos zu verenden, entsteht eine Sehnsucht, nicht ohne Sinn auf diesem Planeten gelebt, gearbeitet zu haben und gestorben zu sein.

Religion bietet sich an, da sie übergreifenden Sinn verspricht.

 

Die Frage taucht nun auf: Wirkt Religion selbsterkenntnis-fördernd?

Das impliziert, dass es religiöse Praxis gibt, die Selbstentfremdung zur Folge hat.

 

Wenn Religion einen auf sein tiefstes Selbst zurückwirft und nicht an äusseren Kanälen (wie Riten, heiligen Schriften, Gurus, Sat-sang…) festkleben lässt, dann ist die Religion gesund. Gott ist dann das kritische Gegenüber, die unbestechliche, feststehende Messlatte, welche den Menschen in seinem Mühen immer wieder in Frage stellt.

 

Die Antworten der Religionen auf die Suche des Menschen nach einer holistischen Weltdeutung sind verschieden, aber sie haben das Ziel, der von der Endlichkeit und Vergänglichkeit ausgelösten Sinnlosigkeit zu begegnen und ihr Substanz entgegenzuhalten.

Religion vermittelt die Erfahrung, in ein Wirken eingebettet zu sein, dem man sich im Glauben anvertraut – ähnlich dem, was die Psychologie innerhalb menschlicher Beziehungen „Grundvertrauen“ benennt.

 

Genau in dem, was die Religion schenkt, liegt zugleich auch die Versuchung. Sie schenkt einen umfassenden Sinnrahmen, Befreiung von existenziellen Zweifeln, sich von Gott beachtet und geborgen zu fühlen. Das ist ein Gewinn, dem die Intensität der Abwehr bei jeder Infragestellung entspricht.


Das aus dem Glauben gewonnene Selbstwertsgefühl kippt bei der Bedrohung leicht in eine Verteidigung, die vor Rücksichtslosigkeit nicht zurückschreckt.

Das ist die fundamentalistische Versuchung: Der Gläubige steht nicht mehr dem kritischen Korrektiv Gottes gegenüber, sondern versteht sich – Schulter an Schulter mit Gott – nun selbst als kritisches Korrektiv für alle, die nicht der eigenen Gruppe angehören. Dann erscheinen gewaltsame Bekehrung, Vertreibung oder Auslöschung all jener, die nicht zur eigenen Überzeugungsgruppe – auch innerhalb der eigenen Religion – angehören, als heilige Pflicht, um sich im Glauben sicher zu fühlen.

Das Problematische daran ist, dass man Wahrheitssuche mit Sicherheitssuche ersetzt hat.

 

Die Religion soll die Versuchung, die in ihr steckt, erkennen und thematisieren.

Die grausamsten Verbrechen geschehen in der Überzeugung, Gott auf seiner Seite zu haben.

 

Diese Versuchungen der Religion fallen in ihren unauffälligen Formen vorerst nicht so leicht ins Auge, weil sie ein Vexierbild darstellen. Die innere Gewissheit, von Gott beachtet zu werden, kann umspringen in die Sicherheit, diesen Gott allein auf der eigenen Seite zu haben – also ein Vertreter der Wahrheit zu sein.

Der Einsatz für eine gerechtere Welt kann umspringen in den rücksichtslosen Kampf gegen eine böse Welt. Gottvertrauen sieht der selbstsicheren Vertrauensseligkeit zum Verwechseln ähnlich und der Fanatiker ähnelt dem Altruisten, weil es ihm ja immer nur um seine gerechte Sache geht und nie um sich selbst.

 

Was ist eine gute Religion? Eine, deren Anhänger und Anhängerinnen die Versuchung erkennen, die in jeder – und somit auch in der eigenen – Religion latent lauert.

Eine gute Religion gibt so elementares Grundvertrauen, tiefe Gewissheit, dass sie den Menschen unentwegt in Frage stellen kann.

Wo Religion nichts weiter gibt als Gewissheit, wird sie zur Gefahr.