Idealisiertes Selbstbild
Die Kraft des Idealismus, und der Selbstüberschätzung, der Inflation des Ego begleiten unser spirituelles Leben als einen ständigen Schatten, der vorgibt, das Echte zu sein. Die heiligen Schriften setzen sich mit dieser das menschliche Schicksal seit alters her prägenden Kollektivkraft der Selbstüberschätzung und Identifikation mit Idealen auseinander. Wer an ein spirituelles Leben ohne Schattenseiten glaubt und sich wünscht, dass Mara (die buddhistische Göttin der Dunkelheit) nie zu Besuch kommt, vertritt zumindest eine unrealistische Perspektive, die aber sehr schnell in einen gefährlichen Bereich einmünden kann.
Die folgenden Gedanken sollen sich damit befassen.
Die meisten wachsen im Glauben auf, dass man nicht gut genug ist, um nur seiner selbst willen geliebt zu werden. So versucht man verzweifelt, einem selbstgeschaffenen Bild gerecht zu werden, das einem vorgibt, wie man zu sein hätte.
Der dauernde Kampf, die idealisierte Version seines eigenen Selbstes aufrechtzuerhalten, wird zu einem Schatten im Leben. Das idealisierte Selbstbild wird zu einer Leidensquelle, obwohl es vorgibt, ein Instrument zu sein, das Leid zu überwinden. Es kreiert das Gegenteil, was es einem verspricht.
Diese Entdeckung seines idealisierten Ichs mag schmerzhaft sein, aber sie wird es einen ermöglichen, die Art und Weise, wie man sich die Welt darstellt, neu einzuschätzen und wird einem zum wahren, entspannten Selbst verhelfen.
Der Schmerz ist von Geburt an ein Teil der menschlichen Erfahrung. Obwohl schmerzhaften Erfahrungen angenehme folgen müssen, ist das Wissen um den Schmerz und die Angst vor ihm immer gegenwärtig. Das bedeutsamste Gegenmittel, zu welchem Menschen greifen im Glauben, damit Unglück und Leid verhindern zu können, besteht darin, ein idealisiertes Selbstbild als Pseudoschutz zu schaffen. Es soll das eigene Unglück, die Unsicherheit und den mangelnden Glauben an sich selbst überwinden. Indem man vorgibt, etwas zu sein, was man nicht ist durch die Schaffung eines idealisierten Selbstes, hofft man, Glück, Sicherheit und Selbstvertrauen wiederherzustellen.
Es ist eine Täuschung, die aber vorgibt, in der Selbsterkenntnis nützlich zu sein, und das macht sie so schwer als solche durchschaubar. Der Geist flüstert einen immer wieder einen guten Grund, eine Glaubwürdigkeit, ein, das Leiden weiterzuziehen, und das Erstaunliche ist, dass man dies immer wieder glaubt.
In Wirklichkeit beruht gesundes, echtes Selbstvertrauen auf innerem Frieden und nicht im Ausweichmanöver vor der Konfrontation mit Leid.
Das durch das idealisierte Selbstbild aufgebaute Vertrauen ist künstlich und deshalb ist das Ergebnis auch genau das Gegenteil vom Erwarteten.
Das Bewusstsein für die falsche Fassade schwindet schnell, aber man will weiter vortäuschen, etwas zu sein, was man nicht ist. Das Leid potenziert sich.
Am Anfang der spirituellen Entwicklung setzen die meisten Menschen bei den Idealen an, die von heiligen Schriften und Vorbildern inspiriert werden, der Tradition, den Musterbildern innerhalb der eigenen Gemeinschaft, und den Vorstellungen von sich selbst, wie man eigentlich gerne sein möchte. Man geht von Zielvorstellungen aus, die der Mensch durch sadhana, durch Bemühung, durch Gebet, durch Askese erreichen sollte. Man hält sich die hohen Ideale vor Augen, die man erreichen will und soll - die vollständige Selbstlosigkeit, Selbstbeherrschung, brahmanische Eigenschaften entwickeln, die ständige Freundlichkeit, Freiheit von Zorn, Überwinden der Sexualität.... Diese Spiritualität entspringt der menschlichen Sehnsucht, immer besser zu werden, immer höher aufzusteigen, Gott immer näher zu kommen.
Diese Art der Spiritualität ist sicher gut. Sie fordert uns heraus und spornt uns an, über uns selber hinauszuwachsen und uns den wirklichen Zielen zuzuwenden und sich nicht einfach im Trott der Verweltlichung zu verlieren. Dank ihr beginnen wir hart an uns zu arbeiten. Ohne sie würden wir uns zu oft nur um uns selbst und unsere kleine Welt kreisen. Wir könnten nicht die Möglichkeiten entdecken, die in uns latent schlummern und an denen wir ohne die idealisierte Spiritualität vielleicht vorbeileben würden. Es ist eine Genesis einer ganz neuen Möglichkeit, die uns lockt, die eigenen Angewohnheiten und die Trägheit zu überschreiten, sie ist ein Ansporn, an uns zu arbeiten, unsere Berufung zu entdecken und das Selbstbild zu erweitern. Wir haben mehr Möglichkeiten als wir denken – und das Ideal kann eine Annäherung daran sein, was Krishna mit uns noch alles vorhat. Im Ideal schaut man auf und darin liegt seine Begeisterungsfähigkeit. Die Funktion der idealisierten Spiritualität ist, dass sie in uns eine Lebendigkeit erwecken soll, neue Perspektiven eröffnen und letztlich die Sehnsucht nach Radha-Krishna, unserem ewigen Zuhause zum brennen bringen soll.
Sie kann aber auch krankmachend werden, zu einer „Holzwegvollkommenheit“ degradieren – nämlich dann, wenn das Ausrichten auf die Ideale den Kontakt zur eigenen Wirklichkeit überspringen möchte, und dadurch die Verbindung zum eigenen Selbst verliert. Dann wird auch das äusserlich beeindruckende Gebäude von den wunderbarsten spirituellen Konzepten zur Ausweichung der Selbstbegegnung und das eigene spirituelle Leben wird schwächlich. Es ist nun nicht mehr der Pfad einer Gottesbegegnung, sondern oft nur noch ein Kampf, die Hülle einer Erwartung noch irgendwie aufrechtzuerhalten.
Man kann seinen Weg zu Gott nicht einfach erarbeiten, was manchmal in der idealisierten Spiritualität den Anschein macht – und wenn es nicht mehr geht, wenn man die Unmöglichkeit des Vorhabens innerlich spürt, einfach noch einmal ein wenig mehr Bemühung darauf setzen, sich noch einmal richtig anstrengen. Das führt zu einer Überforderung bis hin zum Kollaps anstatt zu Bhakti, reiner Gottesliebe.
Wir können die Transzendenz mit der eigenen Anstrengung nicht erreichen. Das Paradoxe ist, dass uns aller Kampf und alles Bemühen nur dahinzu führt, einzugestehen, dass wir Bhakti, den Heiligen Namen, nicht erzeugen und produzieren können, sondern dass wir Sri Krishna in all diesen Anstrengung nur unseren ernstgemeinten Willen hinlegen, unsere echte Bereitschaft, die nun nicht einfach mehr nur ein Lippenbekenntnis ist. Aber wir kommen an die Grenze, wo wir nur eingestehen können, dass wir aus eigener Kraft notwendigerweise scheitern werden.
In der idealisierten Spiritualität existiert auch die Gefahr, seine Realität zu überspringen und sich zu sehr mit den Idealen zu identifizieren, dass wir eigene Grenzen und Schwächen verdrängen. Dies führt zu einer Spaltung (einem inneren Zwiespalt zwischen unseren Zielen und unserer gegenwärtigen "Wirklichkeit"), bis hin zu einem Zerreissen. In diesem „Gespalten-Sein“ wird der Mensch kränklich und vor allem leblos . Das Identifizieren mit dem Ideal geschieht dann sehr schnell, wenn man bemerkt, dass es praktisch unerreichbar weit weg ist, aber man möchte ja auch nicht resignierend aufgeben. Dann bietet es sich an, die eigene Wirklichkeit zu verdrängen und im Ideal zu leben. Die Spaltung führt dazu, auf zwei Ebenen zu leben, die nichts mehr miteinander zu tun haben bis hin zur Blindheit für die eigene Situation – hier ist die „Selbsterkenntnis“ zu einem „spirituellen Anartha“ (Hindernis) geworden, die im „Madhurya Kadambini“ als „taranga rangini“ beschrieben werden. Zum anderen kann der eigene Schatten auch auf andere übertragen werden. Weil wir oft nicht zugeben können, dass wir dem Ideal nicht entsprechen, projizieren wir unsere eigene Schwäche, unser Unvermögen auf andere Mitmenschen, was zur Folge hat, dass man ihnen gegenüber hart wird. Man will sich über sie erheben. Das erkennt man in der erstaunlichen Aggressivität, die manchmal die Frömmigkeit durchzieht.
Wer sich häufig mit den Idealen identifiziert, verdrängt oft seine eigene Wirklichkeit, die diesen Idealen nicht entspricht, oder die Teile, die da noch nicht deckungsgleich sind. Wahrheit ist nur zu erlangen über ehrliche Selbsterkenntnis und nicht in der Selbstprojektion auf die Ideale.
Manche, die Idealen nachstreben verlieren dadurch die Berührung mit ihrem eigenen Wesen. Sie benützen die spirituellen Idealvorstellungen, um ihrem Ehrgeiz zu genügen.
Im Kopieren von Heiligen wird wir äusserliches Verhalten zwar imitiert, aber nicht die Liebe nachempfunden, die diese Heiligen in ihrem Innern erleben. Das Ego versucht immer das Echte zu imitieren. Selbst das Selbst. Das ist seine Aufgabe.
Das Bhagavatam (10.33.30-31) warnt, dass man das Verhalten von Heiligen Persönlichkeiten nicht einmal im Geist imitieren, sondern ihren Anweisungen nachfolgen sollte. Der Blick und die Ausrichtung auf Heilige will uns kein schlechtes Gewissen machen, da wir so weit davon entfernt sind, sondern uns vielmehr ermutigen, nicht zu eng von uns zu denken; den Ruf Gottes (Sri Krishnas Flöte) auch in uns wieder zu hören und uns hingetrauen, zu dem, was wir wesenhaft sind, unsere svarupa.
Die gesunde idealisierte Spiritualität setzt die Ideale und Ziele in Beziehung zur eigenen Realität, damit in einem auch wirklich eine Verwandlung geschehen kann. Dann führt sie uns zu einer Freiheit und Weite, die uns tatsächlich den Idealen annähern wird – „ Schritt für Schritt in Begleitung meines wachen, beobachtenden Verstandes wird die Transformation erfahren.“ (BG 6.25 und 9.2)
In einer integrierten Spiritualität beginnt man bei sich selber, bei seinen eigenen Schwächen und Leidenschaften, Gefühlen und Bedürfnissen. Sie müssen erst angeschaut werden, damit dem wirklichen Gott begegnen werden kann. Sonst würde man statt Krishna nur den eigenen Hoffnungen und Projektionen begegnen.
In der christlichen Tradition sagt Isaak, der Syrer: „Derjenige, der seine Sünden kennt, ist grösser als der, der durch sein Gebet die Toten erweckt. Derjenige, der eine Stunde lang über sich selbst stöhnt und seufzt, ist grösser als der, welcher das Universum unterrichtet. Derjenige, der seine Schwäche kennt und einsam und zerknirscht Gott folgt, ist grösser als der, der sich der Gunst der Massen in den Kirchen erfreut.“
Der ganze Mensch mit allem, was in ihm ist, muss in einem Engpass, eben in der Kapitulation, für Gott aufgebrochen werden. Alles, was in einem ist an Gefühlen, an Bedürfnissen, an Leidenschaften und Phantasievorstellungen, muss Sri Krishna hingehalten werden, damit er es verwandeln kann. Verwandlung meint, dass unsere Gedanken und Gefühle für Ihn offen werden, zu erkennen, dass sie in ihrer letzten Konsequenz Ihn meinen und suchen. Das Heilmittel für sie ist nicht ihre absolute Erhebung in die Reinheit, sondern ihre Verbundenheit mit dem Heiligen, ihr Sein in der Gegenwart Sri Krishnas. Von Seiner Liebe umhüllt. Alles, was man denkt und fühlt, geschieht in Seiner Vergegenwärtigung, der uns wohlwollend anschaut und durchschaut. Vor Krishna und in Krishna erkennen wir, dass wir uns in allen Gedanken und Gefühlen letztlich nach Ihm sehnen als dem, der allein unsere Sehnsucht zu erfüllen vermag.
Die demütige Spiritualität will die Talsohle zum Sprungbrett werden lassen. Dort, wo man am Ende ist, wo man vor Krishna kapituliert, wo man einsieht, dass man sich aus eigener Kraft nicht aus dem Sumpf herausziehen kann, dort kann eine sehr persönliche Beziehung zu Krishna erwachsen. Man muss Krishna ja nicht seine Leistungen vorweisen, sondern nur die echte Bereitschaft seines Innersten.
Im Umgang mit Menschen erlebe ich immer wieder, wie Menschen über sich enttäuscht sind, weil sie ihren Sadhana nicht erfüllen können, dass sie trotz allen Bemühens immer wieder versagen. Anstatt ihnen Mut zu machen, dass sie mit mehr Willenskraft die Schwäche überwinden vermögen, noch etwas mehr Disziplin aus ihnen herausfordern, weist sie die demütige Spiritualität darauf hin, dass gerade dies eine ganz entscheidende spirituelle Erfahrung ist. Die Bedingung für die Intervention Gottes ist immer das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht, die Bankrotterklärung an den eigenen Willen. Aus dem heraus erwächst ein echtes Anvertrauen. Wir haben für uns keine Garantie. Wir können mit uns nicht machen, was wir wollen. Aber gerade dort, wo wir nichts mehr machen können, wo wir wirklich nicht mehr mögen, wo wir an unseren eigenen Vorstellungen von uns scheitern, wo nach menschlichen Massstäben alles schief läuft, auch dort möchte Krishna uns berühren, und uns zeigen, dass wir in Ihm aufgehoben sind. In der unheimlichen Bodenlosigkeit unserer Existenz erfahren wir die Lieblichkeit des Aufgehobenseins und dürfen uns wirklich in die Arme Gottes fallen lassen.
Kirkegaard schrieb einmal:
„Ein vollkommener Mensch zu sein, das ist das Höchste. Nun habe ich Hühneraugen bekommen. Das bringt mich dem schon etwas näher.“
Es scheint ein Paradoxon zu sein: wir steigen zu Gott hinauf, indem wir in unsere Wirklichkeit hinabsteigen, bis in die Tiefen des Unbewussten. Im Hinabsteigen in die eigene Menschlichkeit, in seine Erdhaftigkeit, erhebt man sich zu Gott. Es ist ein Aufstieg durch Abstieg – ein Paradox des Heiligen. C.G. Jung würde sagen, dass der Weg zu Gott ein Abstieg ist in seine eigene Dunkelheit, in das Unbewusste, in das Schattenreich des Hades ist. Und von dort her kann die Seele reich beschenkt wieder auftauchen, so wie Goldmarie im Märchen „Frau Holle“ in den Brunnen fällt, in der Unterwelt das Gold findet und mit neuem Reichtum wieder in die obere Welt zurückkehrt. Aber dieser Mut ist die Grundlage. Im Augenblick des Loslassens und Eingehens des alten „Ichs“ und „seiner Welt“ verspürt man auch ganz fein, aber dennoch gleichzeitig, das Aufsteigen einer ganz anderen Wirklichkeit. Viele haben erfahren, wenn der Tod ganz nah war, in Bombennächten, in schwerster Krankheit, oder anderen Weisen drohender Vernichtung – wie gerade in dem Moment, in dem die Angst ihr ihren Höhepunkt erreichte und die innere Abwehr zusammenbrach, wenn man sich an dem Punkt unterwirft und die Situation annimmt, schlagartig alles ganz ruhig wurde, unversehens ohne Angst war und spürte, dass etwas in einem lebendig ist, an das kein Tod und keine Vernichtung herankommt.
Ähnliche Seinserfahrungen kann der Mensch machen, wenn er die Sinnlosigkeit, die existentielle Verzweiflung spürt, wenn ihm Unrecht widerfährt. Hier ist zu erfahren, dass man in dem Augenblick, in dem man nachgibt, sich ergab und das Unannehmbare annahm, plötzlich ein viel tieferes Sein aufbricht. Mit einem Male fühlt sich der Mensch in eine unbegreifbare Ordnung hineingestellt und Klarheit durchleuchtet ihn.
Auch wenn sich ein Mensch seiner Einsamkeit stellt, die Traurigkeit aushält, die ihn überfällt, dann kann er sich plötzlich aufgefangen fühlen und von einer Liebe umfangen und geborgen.
Ein schönes Beispiel für die auch für den Schatten offene Spiritualität ist das Märchen von den drei Sprachen. Darin wird der Held, ein Dummling, vom Vater in die weite Welt hinausgeschickt, etwas Rechtes zu lernen. Dreimal nacheinander kommt er wieder nach Hause und gibt auf die Frage des Vaters, was er denn nun gelernt habe, das erste Mal zur Antwort: „Vater, ich habe gelernt, was die Hunde bellen.“ Das zweite Mal: „Was die Vögel sprechen“, und das dritte Mal: „Was die Frösche quaken“, worauf ihn der Vater, der als Verkörperung der rein rationalen Einstellung mit solcher Kunst nichts anzufangen weiss, in höchstem Zorn verstösst.
Er geht auf Wanderschaft und kommt in eine Burg, in der er übernachten möchte. Der Burgherr kann ihm aber nur den Turm zur Verfügung stellen, in dem wilde bellende Hunde hausen, die schon manchen verschlungen haben. Er hat aber keine Angst, nimmt etwas zum Essen mit und wagt sich in den Turm hinein. Er spricht wohlwollend mit den bellenden Hunden. Und sie verraten ihm, dass sie nur deshalb so wild sind, weil sie einen Schatz hüten. Und sie zeigen ihm den Weg zum Schatz und helfen ihm dabei, ihn auszugraben. Der Weg zum Schatz geht also über den Dialog mit den bellenden Hunden, mit seinen Leidenschaften, mit seinen Problemen, mit den Ängsten und Wunden, mit all dem, was in einem bellt und die Energie verschlingt. Eine idealisierte Spiritualität würde die Hunde in den Turm einsperren und daneben ein Gebäude von Idealen errichten. Doch dabei müsste man ständig Angst haben, dass die Hunde nicht doch noch ausbrechen und einen verschlingen könnten. Dann ist die Angst vor den lauernden Begierden und ständigen Versuchungen in einem am Brodeln. Vor allem aber sperrt man sich vom Leben ab. Alles, was wir unterdrücken oder verdrängen, fehlt uns an unserer Lebendigkeit. Die bellenden Hunde sind voller Kraft. Wenn wir sie einsperren, fehlt uns ihre Kraft, die wir für unseren Weg zu Krishna und zu uns selber brauchen.
Es geht in den Heiligen Schriften nicht darum, uns eine Sprossenleiter anzubieten, mit der wir zur Vollkommenheit aufsteigen, sondern die Betrachtung all des Heiligen wird konfrontiert mit dem eigenen Leben, mit der eigenen Wirklichkeit – was einen Weg eröffnet, der in die Tiefe der Demut führt. Demut soll auch nicht als Tugend verstanden werden, die man sich selber anwirbt, indem man sich „verdemütigt“ und klein macht, es ist nicht eine soziale Tugend, sondern eine religiöse Grundhaltung.
Demut wird vom Althochdeutschen diomuoti abgeleitet und beschreibt eine „dienende Gesinnung“. Das lateinische Wort humilitas hat mit humus, mit Erde, zu tun. Humilitas ist also das Aussöhnen mit unserer Erdhaftigkeit, mit unserer Erdenschwere, mit unserer Triebhaftigkeit, mit unserem Schatten.
Die Griechen unterscheiden da genau zwischen tapeinosis (Erniedrigung, Elend) und tapeinophrosyne, was die Haltung der Demut, der geistlichen Armut, beschreibt. Es ist der Ort der Tiefe, an dem man wirklich Gott begegnen kann, an dem erst das wirkliche Gebet erklingt. Diese Demut ist die Voraussetzung für die echte Gotteserfahrung. Das ist die Trinad-api-sunicena-Stimmung, von der Sri Caitanya im Siksastakam spricht.
Jung spricht von der Inflation des Stolzen, der sich aufbläht mit hohen Idealen, der sich mit archetypischen Bildern identifiziert (z.B. dem Bild des Propheten, des Märtyrers, des Heiligen...). Und diese Identifizierung mit dem archetypischen Bild entfremdet einen von sich selber. Demut ist für Jung den Mut, den eigenen Schatten anzuschauen. Ohne Demut würde der Mensch seine unangenehmen Seiten verdrängen und nur das Eingeständnis der eigenen Schwächen kann einem vor den Verdrängungsmechanismen schützen, mit denen man den Schatten ausschliesst. Solange man seine Schwächen verbergen muss, führt man ein Ersatzleben an der Oberfläche, kann also nie mit dem Wesenskern beten. Es ist eine atrophierte Spiritualität. Es braucht die anfängliche Akzeptanz und dann die Integration der Dunkelseite, um wieder mit Leidenschaft, als ganzes, nicht zersplittertes Wesen, bei Krishna sein zu vermögen. Wenn das Numinose an einem herankommt, bevor man sich aufmerksam und voller Bewusstsein auf des Phänomenale, die Dinge der Welt, eingelassen hat, entsteht eine artifizielle und übersteigerte Spiritualität, welche zusammenbrechen muss, manchmal sogar in die Sünde oder gar in die Gleichgültigkeit gehen muss.
Unsere Anfälligkeit zu menschlichen Fehlern bleibt auch bei einem alten Sannyasi bestehen. Die menschliche Wankelmütigkeit soll erinnert bleiben.
Ein Sünder und ein Erleuchteter haben beide die „Buddha-Natur“, nur ist der Sünder sich seiner Fehler nie bewusst.
So wie Erleuchtung sehr schnell in Täuschung untergehen kann, so taucht auch der befreiende Augenblick der Selbsterkenntnis auf im Betrachten der eigenen Menschlichkeit.
Je näher man sich steht, desto schneller reagiert man mit leichter Kritik und Frustration. Genau deshalb gehören enge menschliche Beziehungen mit zu den entscheidenden Bereichen der spirituellen Entwicklung. Denn sie sind ein Spiegel. In den Partnern und Lebensgefährten, Eltern und Kindern sehen wir unsere Bedürfnisse, Hoffnungen, Ängste und Erwartungen in Grossbuchstaben geschrieben.
Die Wunden liegen unbetäubt bloss. Man hat freien Zugang aufeinander.
Sie sehen einen entbehrt vom idealisierten Selbstbild.
Wir haben eine Vorstellung davon, was wir sein sollten, und wie wir handeln sollten; aber tatsächlich handeln wir immer anders. Prinzipien, Überzeugungen und Ideale können schnell zu Heuchelei und zu einem unehrlichen Leben führen.
Ideale spiegeln unsere religiöse Natur wider. Aber sie können auch Gift sein, wenn man sich von ihnen beherrschen lässt und wenn sie mit der konkreten Wirklichkeit verwechselt werden.
Sie dienen als Ansporn, denn zum wirklichen Menschsein gehört es, dass man über sich hinauszuwachsen sucht, doch nie zu einem Ende kommt. Ideale sind Mittel zur Inspiration, Orientierungshilfen.
Dass sie vom Menschen auch immer wieder missverstanden werden, zeigt unsere traurige Religionsgeschichte.
Die Verdrängung normaler menschlicher Bedürfnisse ist eine Form der Idealisierung, die in vielen spirituellen Traditionen vorherrscht. Es gibt sogar eine Bewertung des spirituellen Fortschrittes, welchen man von der Überwindung dieser Bedürfnisse ableitet.
Man soll am besten keine persönlichen Bedürfnisse und Wünsche haben. Doch ist in einer weltfremden Vollkommenheit gerade auch wieder die Gefahr, den Wert dieser zu verkennen.
Wenn erwartet wird, die Rolle heiliger Selbstgenügsamkeit und asketische Reinheit zu erfüllen, wird die menschliche Natur zugunsten eines Ideals oft in den Schatten gedrängt, oder in den Bereich des Heimlichen.
Entsagung ist eine bewusste Form der Anspruchslosigkeit. Sie erleichtert die Abstandnahme. Ein Zeichen gesunden Verzichts ist, dass die Person, die sich zu einer solchen Lebensform freiwillig entschieden hat, nicht die Bedürfnisse unterdrückt, sondern integriert. Statt die sinnliche Liebe zu verleugnen, wird sie in ihrer ganzen emotionalen Bandbreite gleichsam als innere Haltung ins spirituelle Leben eingebunden.
Probleme tauchen auf, sobald die Verleugnung der Bedürfnisse zum Grundstein, zum Fundament und zum Kriterium der eigenen spirituellen Überzeugung wird.
Durch die ängstliche Selbstkasteiung schneidet man sich von den eigenen Erfahrungen ab. Und es bleibt nur noch eine Konzeptspiritualität übrig, die zwar von der Wahrheit spricht, aber sie nicht mehr zu vermitteln vermag.
Wenn die menschlichen Bedürfnisse nicht zugelassen werden, kann es leicht zu ihrer Dämonisierung kommen, und zu schlechtem Gewissen, wenn man dem Ideal nicht entsprechen vermag. Und wenn diese Verurteilung noch auf andere projiziert wird, sind Paranoia bis hin zu Inquisition die Folge. In der Gemeinschaft floriert dann eine Lebensangst.
Wenn in einer Gemeinschaft menschliche Bedürfnisse und Emotionen offen eingestanden werden, trägt dies sicherlich zur Entspannung bei. Ernüchterungen, so schmerzlich sie auch sein mögen, gehören zum spirituellen Weg. Sie holen uns aus unserer Naivität und oft versimplifizierten Spiritualität zur komplexen Wahrheit des Menschseins zurück.
Ein idealisiertes Selbstbild, der Schutzpanzer vor der Wirklichkeit, enthebt einen vor einem langfristigen Zugang zur Transzendenz. Viele erleben darin natürlich Öffnungserfahrungen, welche aber meist nicht von dauerhafter Natur sind. Das ist sicher eine Erklärung für die erstaunliche fluktuativen Bewegungen von „inneren“ Überzeugungen in Menschen auf dem spirituellen Pfad.
Da das ganze Thema immer auch mit einem Gottesbild zusammenhängt, möchte ich diese Betrachtung enden mit ein paar Worten an Ihn, mit einem Gebet.
Wertvoll
Unerbittlich zu immer neuen Leistungen treibt mich der innere Richter an.
Tag für Tag werde ich verklagt, entwertet.
Tag für Tag: du musst, du sollst – eine unendliche Last der Zuständigkeit droht einem zu erdrücken. Vernichtigt wird, was gelang und gebrandmarkt das Versagen.
Der Geist der Überforderung drängt mich in die Distanz zu allem. Auch zum Gebet, zu dem ich dann einfach nicht mehr fähig bin und manchmal sogar Angst davor habe....
Lieber Krishna
Ich stelle überhöhte Ansprüche an mich und kann ihnen nicht gerecht werden. Sogar in der Begegnung mit dir fühle ich nun einen spirituellen Druck....
Immer bleibe ich weit hinter dem zurück, der ich gerne sein möchte.
Meine Erschöpfung wächst von Tag zu Tag.
Heile mich von allem falschen Ehrgeiz.
Weil ich dir wichtig bin, muss ich mich nicht wichtig machen.
Weil ich dir wert bin, muss ich mir selber nicht einen Wert geben und erarbeiten.
Erst in der Hingabe zu dir werde ich zu dem, der ich bin.
In der Kapitulation vor meinen eigenen Idealen darf ich dir näher kommen, intimer bei dir sein als in der Genugtuung ihrer momentanen Umsetzung.