Tradition ist, das Feuer zu erhalten und nicht Asche zu bewachen

 

Eine Betrachtung anhand von Bhaktivinod Thakurs Einleitung zur „Krishna Samhita“

 

Der Pfad der Bhakti ist eine lebendige Weiterentwicklung, ein evolvierender Prozess der Verwirklichung des Absoluten. Er stammt zwar aus einem indischen Kontext, ist aber genauso wenig indisch wie der Satz von Phythagoras, der zwar im geographischen Griechenland entdeckt wurde, griechisch ist.

Spirituelle Wachheit bedeutet, einen genauen Aussortierungsprozess zu tun und Essenz zu bewahren und behüten und überflüssige kulturelle Anhängsel abzulegen.

 

Die Wurzeln des Pfades sind in Indien zu finden, aber er muss aktualisiert und erweitert werden mit den Wahrheitserkenntnissen von heute. Nur so kann die Essenz bewahrt werden. Zugleich muss man unnötige kulturelle Praktiken ablegen und ausrangieren, da sie die Praktizierenden nur von ihrer Gesellschaft, in der sie gerade leben, entfremden.

 

Hingabe ist spontane natürliche Hinwendung zu Gott, ein Pfad der Freiheit, Wahrheit und Liebe. Die Wahrheit kombiniert den Pfad des Herzens, devotionale Liebe, mit intellektueller Ehrlichkeit und vollständiger Offenheit und Unbefangenheit.

Das Grundvertrauen kann nicht fundiert sein auf einem rigiden Set von Anschauungen und konfessionellen Regeln, sondern es bedarf der Offenheit zu Gott geführt von der Selbsthingabe.

 

In der Einleitung zur “Krishna Samhita” schreibt Srila Bhaktivinoda Thakur: “Indien wird profitieren, wenn man die Zeit und Historie unter dem Blickwinkel von Vernunft kritisch untersucht. Dadurch kann man hoffen, dass auch Indien allmählich Fortschritte macht auf dem Pfad zum letztlichen Ziel des Lebens. Wenn kritische Vernunft kombiniert werden mit alten Glaubensansichten, dann wird der ganze über Jahrhunderte angesammelte Sumpf von Missverständnissen aufgelöst werden und dann wird der Geruch der Schande von den Menschen Indiens schwinden und Indiens tiefe Weisheit wird seine Gesundheit wiedererlangen.

Die Geschichte und die Zeit der kritischen Vernunft zu unterziehen bedeutet, dass man die Werkzeuge der modernen Gelehrten, der empirischen Forschung einbezieht, um historische Begebenheiten und die verschiedenen Schriften zu datieren.“

Bhaktivinoda Thakur beschreibt darin auch das Alter des Bhagavatam und der Veden als viel näher bei unserer Zeitrechnung als es die Tradition selber vermittelt. (Das Bhagavatam sei nur 1000 Jahre alt) Viele Anhänger der vedischen Tradition haben den Ansatz der Gelehrten des Westens immer ausgeschlossen und die Texte sehr buchstabengetreu, fundamentalistisch, verstanden.

 

Bhaktivinod betrachtete den kritischen Ansatz als Heilung für Indien und auch für den eigenen spirituellen Fortschritt. Er wollte den Glauben kombinieren mit dem kritischen gelehrten Ansatz, was progressive Christen ja schon länger erfolgreich gemacht hatten. Die traditionelle Hingabe muss ergänzt werden mit dem forschenden und prüfenden Blick des nicht voreingenommenen Intellekts um sie zu befreien von abergläubischen Misskonzepten und um sie zugänglich zu machen zu gebildeten Menschen der westlichen Hemisphäre.

Man muss in der Entwicklung der Tradition auch menschliches Werk erkennen, denn wenn man alles direkt der göttlichen Offenbarung und Fügung unterstellt, wird natürlich alles geheiligt und dadurch idealisiert. Damit kommt es in einen Nimbus, der für Infragestellung immun ist.

Schwacher Glaube braucht Verteidigung. Die Wahrheit nicht.

Dieser Ansatz fand Widerstand zu Zeiten Bhaktivinodas und erstaunlicherweise selbst heute noch – sogar unter den Nachfolgern von Bhaktivinod.

 

Wenn man in die Tiefe geht, kann man sein Glaubensgebäude analysieren und die ausgedienten veralteten Praktiken erneuern.

In der Krishna Samhita schreibt er: “Die Regeln und Regulierungen, die man durch die Schülernachfolge (Tradition) erhalten hat betreffend Sadhana (der Pfad, ein spirituelles Ziel zu erlangen) und Sadhya (das Eschaton, das Letztendliche, das ewige Ziel) verändern sich im Laufe der Zeit gemäss der Mentalität und Örtlichkeit der Menschen. Eine Regel, die in einer Gemeinschaft befolgt wird, mag von einer anderen Gesellschaft nicht unbedingt akzeptiert werden. Deswegen ist die eine Gemeinschaft von einer anderen verschieden. Aber in fortgeschrittenen Seelen existiert keine Spur von Sektierertum. Sie sehen eine umfassendere Entwicklung.“

Bhaktivinoda Thakur sah die Bhakti als einen progressiven Prozess, der immer wieder gemäss Zeit und Umständen angepasst werden muss. Wahrheit ist ewig, aber nicht statisch.

Diejenigen, die die eigenen religiösen Prinzipien als wirkliches Dharma (Weltordnung) betrachten und die Herangehensweise anderer Ansätze anderer Konfessionen als nur vorläufig, fragmentarisch und bestenfalls einführend, sind unfähig, die ganze Wahrheit zu erkennen, da sie beeinflusst sind von Vorurteilen (d. h. ihr eigenes Urteil über die Wahrheit zu stellen) und sich folgedessen nicht der Wahrheit nähern, sondern nur ihrer eigenen Vorstellung der Wahrheit.

 

Im seiner Abhandlung zum Srimad Bhagavatam „the bhagavat“ schreibt Bhaktivinod Thakur schon 1859:

„Höre nie auf zu zweifeln und weiter zu fragen. Natürlich ist Gott nicht beleidigt oder gekränkt dadurch, vielmehr sind sie Anzeichen einer richtig Suchenden.

Freiheit ist das Prinzip, das wir als das wertvollste Geschenk Gottes betrachten. Wir müssen uns nicht leiten lassen von denen, die lange Zeit vor uns gelebt und gedacht haben. Es braucht eigenständiges Denken und die Offenheit, Aspekte der Wahrheit zu entdecken, die noch nicht entdeckt sind und momentan für einen noch im Verborgenen liegen. Im Bhagavatam werden wir angewiesen, den Geist, die Stimmung der heiligen Schriften aufzunehmen und nicht die Wörter oder Buchstaben.“