Tradition und Traditionalismus
Ich glaube, dass viele Vaishnavas im Westen schon mit den Identifikationen mit der Kultur gerungen haben, aber öffentlich wurde das noch viel zu wenig thematisiert.
Aus dem Bedürfnis, doch "glauben" zu wollen, schluckt man dann auch noch gleich die kulturelle Folklore. Und genau diesen Schritt der Untreue zu seinem Innersten führt in die Selbstentfremdung und nicht zur Selbstverwirklichung.
Gerade religiöse Konvertiten, die eine andere und neue Religion übernehmen, sollten sich doch dieser Frage stellen, was sie gerne in sich integrieren möchten und was für sie unverantwortbar ist zu schlucken.
Institution, Dogma, Ritual, Abläufe in einer religiösen Festivität, Religionslehre und die daraus entwickelten moralischen Verhaltensformen bilden den statischen Aspekt der Spiritualität. Diese statischen Faktoren sind wie ein Leitungsrohr, durch das die dynamische Überlieferung fliesst. Wenn die Religion als moralisches Regulativ, als Regeln und Regulierungen, nicht durch den Prozess der Akulturisation hindurchgeht, stellt sie ein Fremdelement in der psychischen Struktur eines Lebewesens dar und kann dann sehr schnell zur Selbstentfremdung hinführen.
In diesem Rohr des statischen Aspektes entstehen – leider auch – Ablagerungen, und es kann möglicherweise so verstopft werden, dass nichts mehr durchfliessen kann.
Der dynamische Aspekt ist der ewige Inhalt, die Überlieferung, die es immer wieder neu zu verstehen und erfassen gilt. Das Unbegrenzte kann vom Begrenzten nie vollständig erkannt werden, weswegen die Suche der Seele nach Gott kein Ende kennt.
Die Priorität soll dabei immer dem dynamischen Aspekt der Religion geschenkt werden. Wenn dem statischen Aspekt mehr Gewicht zukommt wie dem dynamischen, dann besteht eine starke Tendenz zum Fundamentalismus.
Es mag widersprüchlich erscheinen, von einer „dynamischen Überlieferung“ zu sprechen. Im allgemeinen Sprachverständnis gehört der Begriff „Überlieferung“ eher auf die statische Seite und wäre eher wie ein Leitungsrohr. Aber Überlieferung meint eigentlich den Prozess, in dem ein Inhalt vermittelt wird, und das ist etwas Aktives.
Viele spirituell orientierte Menschen stellen sich vor, dass die Überlieferung wie ein Paket weitergegeben wird, wie eine Mitgift, die es einfach zu akzeptieren gilt. Das wäre einfach eine digitale Übertragung einer Information und nicht „Parampara“, die heilige Übermittlung ewiger Inhalte.
Überlieferungen ändern sich, wenn sie weitergegeben werden. Die Herausforderung dabei ist, der Überlieferung oder Tradition treu zu bleiben, ohne dem Traditionalismus zum Opfer zu fallen.
Mit anderen Worten soll die Überlieferung inspirieren, aber nicht einfach imitiert werden; man soll ihr treu sein, aber dennoch seinen eigenen Weg gehen.
Es macht einen grossen Unterschied, ob man in der Tradition verwurzelt ist oder darin feststeckt. Man kann manchmal nicht auf Anhieb sagen, ob ein Mensch oder eine bestimmte Gemeinschaft in der Tradition feststeckt oder darin verwurzelt ist, ebenso wenig wie man sagen kann, ob dieses kleine Etwas, das da mitten unter abgefallenen Blättern aus dem Boden ragt, ein verwurzelter Setzling ist oder ein lebloser Zweig, den jemand da hineingesteckt hat. Man muss den Frühling abwarten. Wenn der Frühling kommt, sieht man, ob Blätter wachsen oder gar nichts und er einfach feststeckt.
Wenn Blätter wachsen, sind es natürlich neue Blätter – grundsätzlich die gleiche Art von Blättern, wie sie andere Pflanzen dieser Art immer schon hatten, aber in einem wirklichen Sinn sind sie auch neu und weisen andere Einzelheiten auf.
Es geht darum, die Vergangenheit zu bewundern, ihr dankbar und versöhnt zu sein, und dann neue Wege einzuschlagen.
Das ist die grosse Herausforderung an jede Überlieferung: immer etwas völlig Neues hervorzubringen, und dennoch die Essenz der Wahrheit in der Überlieferung beizubehalten. Der Untergang jeder Überlieferung ist die Ritualisierung dessen, was ursprünglich lebendig war.
Überlieferung der Spiritualität bedeutet nicht lebloses Wiederholen des Gewesenen, sondern lebendiges Weiterdenken und Weiterentwickeln des Erfahrenen. Dann ist Überlieferung nicht einfach das Einfrieren des Gewesenen, Stagnation, sondern Fortsetzung und Wachstum.
Nur dann kann von Überlieferung gesprochen werden. Sonst ist es blosses Wahren von Kulturgut.
Srila Bhaktivinod Thakur, ein Heiliger in der Caitanya-Tradition, schreibt 1869 in seinem Artikel „The Bhagavat“:
"Tatsächlich sind die meisten Leser nur Sammelbecken für Fakten, Meinungen und Aussagen, die von anderen Menschen gemacht wurden. Aber dies ist kein Studieren. Der Studierende sollte die Tatsachen lesen, um sein kreatives Denken anzuregen und nicht mit der Absicht, diese Information fruchtlos aufzubewahren. Die Studierenden sollten wie Satelliten alles Licht, das sie von den Autoren empfangen, zurückstrahlen und sich nicht an die Information und den Gedanken festzuklammern und ihn in sich einzusperren.
Gedanken und Ideen sind progressiv, sind etwas Lebendiges. Die Gedanken des Autors und auch von heiligen Texten müssen im Leser ihren Fortgang finden, entweder in Form einer Korrektur oder einer Weiterentwicklung."
Wechseln sich der Empfänger und seine Empfängnisfähigkeiten, so muss auch das Überlieferbare entsprechend ändern. Wächst der Mensch in seiner Selbst-und Wirklichkeitsauffassung, so muss er auch das Überlieferte wachsen lassen.
Jede Handlung ist ein Ritual, aber die Starrheit, mit welcher man sich manchmal daran klammert, verwehrt Zugang zum Beweggrund, zur inneren Haltung, die im Ritual nur Ausdruck findet. Wenn die Verbindung zur ursprünglichen Erfahrung, die im Ritual ausgedrückt wird, verloren geht, und der Ritus dennoch wiederholt wird, und es nur noch für sich selbst steht, dann deutet dies auf einen inneren und/oder äusseren Zwang hin, der niemals das wirklich Heilige zu fördern vermag.
„Alles, ob spirituell oder materiell ist nur eine Frage des Bewusstseinszustandes“ (10.10.4 Erläuterung)
Das bedeutet nicht, dass Wiederholung bereits Zwang oder Ritualismus impliziert. Solange die Nabelschnur zwischen der inneren Erfahrung und dem Ritual nicht gerissen ist, wird das Ritual gespeist und fördert einen.
In der konfessionellen Präsentation der Religion wird immer suggeriert, wie wichtig die Handlungsweise, der Rahmen, das Ritual sind, und dass es notwendig sei für spirituelles Fortschreiten. Die dynamische Seite wird generell unterbetont.
Ein lebendiges Ritual kann auch ohne grosse Agitation und Aufwühlung innerhalb der Tradition geändert werden.