Offener Brief an denkende Menschen
Über ein System, in dem es Milliarden von Opfern gibt, aber keine Täter
Namen können schützen. Wenn Menschen Tieren einen »persönlichen« Namen geben, werden diese von abstrakten Objekten zu individuellen Wesen. Sie haben dann gute Chancen, gehegt, gepflegt, ver- und umsorgt zu werden.
»Yu« hatte dieses Glück. Die Meeresschildkröte war bei einem Hai-Angriff schwer verletzt und mit versehrten Vorderpaddeln vor der Südwestküste Japans gefunden worden. Fürsorgliche Menschen gaben ihr den Namen »Yu«. Nun sollen Prothesen der weiblichen Schildkröte ihre Schwimmfähigkeit zurückgeben. Die Vereinigung zum Schutz der Wasserschildkröten rief eigens eine Stiftung ins Leben, um Geld für die Herstellung der Prothesen einzuwerben. Diese sollen vom grössten Prothesenhersteller Japans, gefertigt werden. Eine Sprecherin der Firma nannte das Vorhaben eine »schwierige Herausforderung«. Aber die Leidenschaft der Tierschützer sei so bewegend gewesen, »dass wir uns entschlossen, das Projekt zu unterstützen«.
Die Millionen Nutztiere starben namenlos.
Zur selben Zeit, als diese Meldung um die Welt ging, wurden 700 Kilometer südlich der japanischen Hauptstadt Tokio Tausende Delfine massakriert. Mit Haken, Harpunen und Messern fielen die Treibjäger über ihre wehrlose Beute her, deren Blut das Wasser in der Bucht von Taiji rot färbte. Als zivilisatorischer Firnis für das alljährliche Massentöten dient der Verweis auf die japanische Esskultur. Trotz der Hunderte von Walen, die Japans Flotte jedes Jahr zu »wissenschaftlichen« Zwecken umbringt, besteht zusätzlicher Bedarf nach derlei Delikatessen.
Solchen asiatisch-barbarischen Zuständen setzt Europa seine dem Geist der Aufklärung verpflichtete Ordnung entgegen: Die Ordnung des Schlachthauses. Rund sieben Milliarden Tiere (ohne Wassertiere) werden in der EU jedes Jahr für den Verzehr geschlachtet. Darunter sind beispielsweise Hunderte Millionen Schweine – die Delfinen an Intelligenz und sozialem Verhalten kaum nachstehen. »Schlachten per Fliessband, Schweinefleischgewinnung mittels angewandter Mathematik«, schrieb der Schriftsteller Upton Sinclair (1878-1968) vor gut 100 Jahren über die Chicagoer Schlachthöfe und konstatierte: »Dennoch konnte selbst der unsentimentalste Mensch nicht umhin, an die Tiere zu denken. Sie waren so arglos, trotteten so vertrauensselig herbei – was ist das für ein Mensch, dessen Lust nach Fleisch ihnen nun in ein paar Augenblicken das Leben kosten wird?«
Die Conditio sine qua non für die immer wieder propagierte »Humanisierung« des Schlachtens ist und bleibt dessen Abschaffung. Denn die industrielle »Produktion« von Fleisch gehört auch im 21. Jahrhundert zum Schaurigsten und Abstossendsten, was sich auf Erden abspielt. Dieses unlösbare Dilemma zeigt die neue Schlachttier-Verordnung der Europäischen Union. Ziel ist die »Minimierung von Leid und Vermeidung von Schmerzen im Verlauf des gesamten Schlachtvorgangs«, heisst es in bester Bürokratensprache. Gar einen »Tierschutzbeauftragten« sollen Schlachthöfe ernennen. »Tierschutz«, wenn Hühner im Elektrobad zu Tode gebracht und Schweine in speziellen Kabinen ver-, Pardon, begast werden – und dies einzig und allein nur wegen einer kulinarischen Vorliebe von Menschen?
Als der amerikanische Philosoph Tom Regan (geb. 1938) angesprochen wurde, dass doch der Begriff „Tierrechte“ sehr pauschal sei, da es schliesslich Affen wie Ameisen gebe und eine Menge dazwischen, antwortete Regan: »Natürlich fällt uns die Entscheidung darüber leichter bei Tieren, die uns als Menschen näherstehen, wie es bei den Primaten der Fall ist. Aber es geht hier um allgemeine moralische Grundsätze. Und deren Anwendung ist zunächst einmal unabhängig davon, ob ein Tier gross oder klein ist. Wenn wir uns darüber erst einmal im Klaren sind, wird beispielsweise auch das achtlose Töten von Insekten in einem anderen Licht erscheinen.«
Der Theologe, Philosoph und Mediziner Albert Schweitzer (1875-1965), wählte bezeichnenderweise nicht explizit die »grossen Tiere«, um seine universale Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben« zu veranschaulichen. »Indem ich einem Insekt aus der Not helfe, tue ich nichts anderes, als dass ich versuche, etwas von der immer neuen Schuld des Menschen an der Kreatur abzutragen«, schrieb er. In »Mein Wort an die Menschen« betonte Schweitzer, diese Ethik mache »keinen Unterschied zwischen wertvollerem und weniger wertvollem, höherem und niederem Leben«. Denn: »Die Konsequenz dieser Unterscheidung ist dann die Ansicht, dass es wertloses Leben gebe, dessen Vernichtung oder Beeinträchtigung erlaubt sei.«
Albert Schweitzer formulierte zugleich eine zentrale Tatsache im Bewusstsein der Menschen: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« Der Mensch muss also zwangsläufig anderes Leben beeinträchtigen, stören, einengen, auch vernichten. Das ist aber nur die eine, in der Regel betonte und überbetonte Seite dieses Satzes. Die unbequeme, vernachlässigte und verdrängte Seite ist das andere »Leben, das leben will« Daraus erwächst die ethische Forderung nach Rücksichtnahme, Mitfühlen und Mitleiden. Wo die Umsetzung dieser Forderung beginnt, welche Lebewesen sie einschliesst und welche sie ausgrenzt und aus welchen Gründen, ist ein Gradmesser für das, was als humanitas bezeichnet wird..
Ein Überlebender des Konzentrationslagers Dachau, Kupfer-Koberwitz (1906-1991), schrieb aus seinen schmerzvollen Erfahrungen heraus das Buch »Die Tierbrüder«. Einer der Texte in diesem Werk beschäftigt sich mit dem Angeln. Allerdings nicht mit dem – »Petrijüngern« zufolge angeblich gar nicht existenten – Leiden der an Widerhaken zappelnden Fische, sondern mit dem Leiden des sogenannten Köders: »Der Wurm in seiner Qual windet sich auf dem Haken. Unvorstellbarer Schmerz – grässlicher, langsamer Tod! Wäre er ein Mensch, würde er sicherlich verzweifelt fragen, ob es möglich sei, dass die Gottheit solches geschehen lasse. ... Der Angler aber sitzt am Wasser, ... lauscht dem Gesang der Vögel und freut sich, dass diese kleinen Sänger heute in unseren Gegenden ein sicheres, geschütztes Leben haben, frei von Nachstellungen durch den Menschen, dank einer Gesellschaft, zu der auch er als anerkannt wertvolles Mitglied gehört: dem Tierschutzverein.«
Nicht nur der Angler, auch der Mensch, der nun am fein gedeckten Tisch sitzt und Körper von Tieren verspeist, glaubt, doch eigentlich ein guter Erdenbürger zu sein.
Mitgefühl mit einem Wurm?! An so etwas denkt man meistens nicht. Indes legt gerade dies den Urgrund eines universalen Humanismus, eines Mitgefühls mit allem Lebendigen auf eine überraschende und faszinierende Weise frei. Auch seinen Vegetarismus begründete Kupfer-Koberwitz mit dem Verweis auf sein Schicksal: »Ich esse keine Tiere, weil ich mich nicht von dem Leiden und Tode anderer Geschöpfe ernähren will – denn ich habe selbst so viel gelitten, dass ich fremdes Leid empfinden kann, eben vermöge meines eigenen Leides.« Ethisch motivierte Opposition gegen strukturelle Schlachthausgewalt.
Der grösste Teil des von Menschen bewirkten Bösen rührt nicht von Heimtücke her, sondern von dem Unwillen, seine epistemische Pflicht zu erfüllen«. Die Philosophie versteht unter epistemischer Pflicht (Epistemologie = Erkenntnistheorie) die Aufgabe, Überzeugungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen, ob sie aufgrund des verfügbaren Beweis- und Indizienmaterials weiter gerechtfertigt sind. Beispielsweise durch die Frage, ob der Verzicht auf Fleisch bei sich selbst und anderen Wesen Leiden erzeugen würde, die grösser wären als die Qualen der gemetzelten Tiere.
Die Etablierung und Akzeptanz dieses Tötungssystems hat zu dem Paradox geführt, dass es Jahr für Jahr Milliarden von Opfern gibt, aber keine Täter. Denn die in »äusserst stabilen« Arbeitsverhältnissen stehenden 20´000 Beschäftigten in der Fleischverarbeitung in der Schweiz agieren schliesslich im »gesellschaftlichen Auftrag«. Somit sind es die Anonymität der »Verbraucher« und die Namenlosigkeit der »Verbrauchten«, die eine fatale, tödliche, gleichwohl organische Einheit bilden. Aufbrechen kann diese Einheit letztlich nur eine Seite: die menschliche.