Offener Brief
an denkende Menschen
Rinderwahnsinn, Schweinepest, Maul- und Klauenseuche: Wer die Zeitung aufschlägt und die Berichte und Kommentare zu den grässlichen Bildern liest oder hört, könnte meinen, dass für die Tiere nun eine besonders schlimme Zeit angebrochen ist.
Dieser Eindruck ist falsch. Es wird lediglich erst jetzt sichtbar, was bereits seit Jahrzehnten das alltägliche Schicksal der Tiere ist: Terror, Folter und Tod. Dass die Tiere jetzt nach ihrem Martyrium verbrannt anstatt gegessen werden, ist für sie völlig belanglos.
Nie zuvor wurde die Schamlosigkeit, Brutalität und Allgegenwärtigkeit des menschlichen Speziezismus so offenkundig: die Ausbeutung von leidensfähigen Wesen einzig und allein deshalb, weil sie zu einer anderen biologischen Art (Spezies) gehören – und sich nicht wehren können.
Dieser Speziezismus ist ethisch um nichts weniger fragwürdig als es Rassismus und Sexismus sind, übertrifft letztere in seinen Dimensionen aber um ein Vielfaches.
Zu keiner Zeit wurden so viele Menschen auf so schreckliche Methoden so systematisch massakriert, wie dies heute mit den Tieren geschieht.
Der Egoismus ist wahrscheinlich kaum irgendwo in einer gröberen Form wahrnehmbar: wir könnten uns problemlos vegetarisch ernähren, wollen aber nicht auf den Genuss des Fleischverzehrs verzichten.
„Gerechter Gott! Aus wie vielen Marterstunden der Tiere lötet der Mensch eine einzige Festminute für seine Zunge zusammen!“ Jean Paul (1763-1825)
Während wir Wohlbefinden und Komfort für den Menschen durch immer raffiniertere Erfindungen und Konzepte zu steigern trachten, arbeiten wir mit ebensolchem Elan an der weiteren Automatisierung und Perfektionierung der Ausbeutungs- und Hinrichtungs-Apparaturen für die Tiere. Und: Während wir kranke Menschen mit Blaulicht ins Spital fahren, prügeln wir kranke Tiere mit Elektroschocks und Eisenstangen ins Schlachthaus.
Weil die barbarische Brutalität unseres Umgangs mit Tieren noch nie so offenkundig war, waren auch Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit des Nichtwissens um diese Brutalität noch nie so gering. Wer weiterhin Fleisch isst, tut dies nicht, weil er nicht weiss, was er damit Tieren antut, sondern weil er es nicht wissen will- weil es ihm einfach egal ist.
Je grösser das Wissen eines Menschen um ein Verbrechen, das er duldet, ist, desto roher und abgestumpfter wird er.
Dennoch: Jeder kann jederzeit mit dem Fleischessen aufhören und damit jenen Schritt setzen, der ihn vom mitwissenden Täter zum mitfühlenden Menschen macht.
Fleisch zu essen ist nicht meine persönliche Angelegenheit, ist nicht Privatleben. Es betrifft doch zumindest das Tier, das um meinetwillen gezüchtet und getötet wird – und das alles nur für den kleinen Moment des Wohlgefühls, wenn sein zerstückelter Körper über meine Zunge rinnt...
„Jeder isst, was er will, jeder viviseziert, wie er gerade will, jeder tötet, was er gerade will....“ Dies ist die Mentalität von Unzivilisierten.
Und schliesslich appelliert die Fleischindustrie: „Wir haben die Freiheit, selber zu entscheiden. Bewahren wir sie uns.“
Moral wird hier plötzlich als Privatsache proklamiert. Was werden uns diese Mörder für Lust und Luxus als nächstes ans Herz legen? Vielleicht: „Wenn du gerade Lust hast, jemanden umzubringen, entscheide dich selbst. Bewahre dir diese Freiheit.“
Meine Freiheit geht nur soweit, wie es nur mich betrifft. In diesem Sinne überschreitet das Fleischessen meinen Kompetenzbereich.
„Um eine Gemeinschaft freier Wesen zu ermöglichen, ist die Festlegung von Recht notwendig, wodurch die Freiheit des Einzelnen eingeschränkt wird.“ (Johann Fichte, „Wissenschaftslehre“)
„Wir haben doch noch wichtigere Probleme als uns mit Tierrechten auseinanderzusetzen! Solange es auf der Welt so viel menschliches Leid gibt, ist es gerade unverantwortlich, unsere Energie mit Fragen von der Ungerechtigkeit der Tiere zu verschwenden.“
Eine absolute Prioritätensetzung, wonach nachgeordnete Werte erst nach der vollen Verwirklichung der übergeordneten Werte angestrebt werden dürfen, ist unsinnig, unmenschlich und unmoralisch. Entsprechend einer solchen absoluten Prioritätensetzung wäre es nicht nur unmoralisch, sondern sogar kriminell, irgend etwas für Tiere zu tun, solange es noch irgendwo einen leidenden Menschen gibt; folgerichtig dürfte sich auch der Arzt nur noch um Schwerkranke, der Lehrer nur noch um Sorgenkinder, und die Justiz sich nur noch um Kapitalverbrechen kümmern. Zweitwichtigstes solange zu unterlassen, bis alles Wichtigste sich erledigt hat, wäre das Ende aller Kultur.
Es geht im Leben doch nicht um abstrakte Prioritäten, sondern vor allem darum, an den Orten zu helfen und einzugreifen, an denen wir Unrecht und Leiden konkret begegnen. Wie eigenartig wäre das Verhalten, wenn wir zu einem Unfall kämen und dem Verletzten die Hilfe mit der Begründung versagten: „Anderswo gibt es noch viel verletztere Personen und grösseres Leid.“ Mit der Ungerechtigkeit in Bezug auf Tiere werden wir aber jeden Tag konfrontiert: Jedes Mal, wenn wir Fleisch essen, unterstützen wir damit den grausamen und sinnlosen täglichen Massenmord an unschuldigen Tieren.
Dir mag das Fleischessen teuer erscheinen – einer anderen Existenz kommt es ungemein teurer zu stehen – dem Tier.
Fleischesser sind entrüstet, dass man in Korea Katzen isst. Wieso sollten Kühe, Ochsen und Schweine essbarer sein als Katzen?
„Sie haben soeben zu Mittag gegessen; und wie sorgfältig auch immer das Schlachthaus in einer taktvollen Entfernung von einigen oder mehreren Kilometern verborgen sein mag: sie sind mitschuldig.“
Ralph Waldo Emerson