Arati

Unter allen hinduistischen Ritualen ist sicherlich die „Arati“ die bekannteste. In unzähligen Tempeln kann man dieser Zeremonie beiwohnen, miterleben, wie der Priester die brennende Lampe dem geliebten Herrn darbringt und sie anschliessend unter den Teilnehmern zirkuliert. Unzählige Menschen, die diese Momente bereits miterlebt haben, erinnern sich an die mystische Atmosphäre – die Luft ist erfüllt mit wunderbaren Räucherstäbchen, dämmerndes Licht und Gongs, Zimbeln und liebliche Bhajans erfüllen den Raum.

Rituale sind Handlungsausdruck einer tiefen religiösen Haltung – einer Sehnsucht, die sich im Raum dieser Welt auszudrücken versucht – und sie wirken auch invers – dass nämlich durch das Vollziehen ihrer die schlummernde Sehnsucht wieder erweckt werden kann. 

In der Psychosomatik wird erkannt, wie Haltungen des physischen Körpers Veräusserungen von mentalen Zuständen sein können. Auch im Hatha-Yoga System existiert dieser inverse Ansatz. Durch das Einnehmen einer ganz anderen, ungewohnten und dadurch auch schmerzhaften Körperhaltung wird in einem den Raum geschaffen, in die dieser Körperhaltung entsprechenden inneren Mentalität einzutreten. So gibt einem auch das Ritual den Erfahrungsraum, um sich die innere Haltung einzuverleiben auf die das äussere Tun – die Arati - nur hinweisen möchte.

Das Ritual soll also nicht einfach nur äusserlich zelebriert werden um dann der Person die Genugtuung zu verleihen, spirituell etwas „getan“ zu haben (eine Haltung, die zu einer inneren Vernachlässigung und Faulheit führt), sondern soll der Seele den Verwandlungsraum ermöglichen, heilige Gefühle in der eigenen Existenz konkret aufleuchten zu lassen.

„Religiöses Verhalten, Ehrlichkeit, Mitgefühl und andere gute Eigenschaften, sowie Erkenntnis, die durch Weltentbehrung errungen wurde, sind wertlos, wenn das Selbst nicht mit liebender Teilhabe mir zugewandt ist“ (SB 11.14.22)

 

Krishna erklärt anschliessend, dass es nicht nur die innere Beteilung benötigt, sondern ein Erschüttern:

„Wenn die Haare nicht aufstehen, wie kann dann das Herz schmelzen? Und wenn alle vergangenen Vorstellungen nicht vergehen, wie können dann Tränen der Liebe aus den Augen strömen? Und wenn man nicht weint aus spirituellem Glück heraus, wie kann man dann dem Herrn liebevoll dienen? Und wie könnte das Bewusstsein gereinigt werden ohne solchen Dienst?“ (SB 11.14.23)

 

„Arati“ bedeutet wörtlich „Morgenröte“, das Ende der Nacht. Es ist also eine Weihehandlung, welche das Aufwachen aus dem Schlaf des Vergessens des eigenen Selbst versinnbildlicht. Denn das Vergessen der Wirklichkeit der Seele und ihrer Beziehung zu Radha Krishna ermöglichte erst die Illusion, die Identifikation mit zeitweiligen Beziehungen und Aufgaben.

 

In der Arati soll das Licht der reinen Hingabe zu Radha Krishna im eigenen Herzen entfacht werden, durch welches Sie selber und auch das eigene Selbst erst wahrnehmbar werden.

(Reine Hingabe wird im Bhakti rasamrta sindhu definiert als das Tun, das ohne irgendwelche materiellen Wünsche, die einem von seiner Wesensnatur entfremden – nämlich der Ambition, irgend etwas von Gott zu bekommen und dem Flehen, vor etwas bewahrt zu werden - , rein zur Freude Gottes ausgeführt wird.)

 

„Arati“ bedeutet auch die Auflösung sämtlichen Leides (BG 7.16). Weltlich gesinnte Menschen wollen Gott benützen und verzwecken, sie vor dem Beschwernissen zu schützen, die sie ja selber in dem Moment erzeugen, in dem sie sich von reiner Hingabe abwenden (Denn Leid ist nicht das Wirken von unerwünschten Zuständen an der Oberfläche, sondern nur die Identifikation mit dem mit den Zuständen – auch wenn sie vom Standpunkt der Zeitweiligkeit als sehr angenehm empfunden werden) – aber Erwachende wollen in der Arati das Leid Gottes beheben. Was ist dies? Er sehnt sich mehr nach uns als es in unserer Natur liegen könnte auf Ihn ausgerichtet zu sein. Dass wir unsere Mentalität des Vergessen-Wollens, der Abgrenzung und Isolation (welche auch in den grössten Versozialisierungen immer latent fühlbar sind) aufheben, ist Sein grösster Wunsch. Wie sind also nicht nur willkommen bei Ihm, sondern erwartet....

In dieser Stimmung bedeutet Arati (A – hervorbringen /rati – tiefe Liebe) das, was die intensive Liebe zu Gott in uns wieder erwachen lässt.

 

Die Arati beginnt mit dem Klang des Muschelhornes – mit Klang fordern wir die Aufmerksamkeit von Jemandem. Die Seele wird also aufgefordert, wenigstens jetzt, in der Arati, gesammelt zu sein und sich nun in dieser Zeit ganz bewusst in Gottes ständige Gegenwart zu begeben. Das ist die wörtliche Bedeutung des Sanskritwortes für Verehrung (upasana heisst „nahe sein“)

 

"Welchen Wert hat ein langes Leben, das verschwendet wird, weil man aus den vielen Jahren in dieser Welt keine Verwirklichungen mitnimmt. Besser ist nur ein Augenblick bei vollem Bewusstsein, denn er gibt den Anstoss dafür, nach dem höchsten Eigeninteresse zu forschen." (SB 2.1.12)

 

Alles in der Welt kommt von Gott aus uns soll wieder auf Ihn zurückbezogen werden. Das ist die äussere Bedeutung von Religion. Und genau dies wird in der Arati vollzogen, indem Ihm alle Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther, Verstand, Intelligenz und abgetrenntes Bewusstsein), die ja von Ihm ausgehen, wieder freiwillig darbringt. Damit wird ein erster Schritt getan. Wenn ich dir etwas entwende und es dir dann wieder zurückgebe, ist das noch nicht ein Liebesbekenntnis, aber wenigstens wird die Trennung des Diebstahls bereinigt.

Diese Elemente, die das Lebewesen wie Gefängnismauern bedecken, werden in der Arati wieder als Geschenke zu Gott verstanden, und dadurch werden sie durchlässig für Ihn: Damit das Geschöpf den Urschöpfer auch in der Schöpfung wieder erkennen kann.

„Erde“ darzubringen bedeutet nicht einfach alle grob physisch wahrnehmbaren festen Dinge in diese Verbindung zu setzen, sondern auch das entsprechende Sinnesorgan, der Geruchssinn in heiliger Treue nur noch in Gottes Absicht zu gebrauchen. (Und so natürlich auch mit den anderen Elementen: Wasser - Geschmackssinn, Feuer – Sehsinn, Luft – Berührung, Äther - Hörsinn)

Hrisikena hrisikesa sevanam bhaktir ucyate – Wenn alle Sinne nicht mehr gebraucht werden um dem Lebewesen Reize für seine egoistische Befriedigung zu vermitteln, sondern nur noch Ihn in allem wahrnehmen zu wollen, dann ist dies der Anfang von Bhakti.

Durch dieses Darbringen der grobstofflichen Welt werden Samskaras, tiefe Eindrücke in unserem Innern, geschaffen, die es mit der Zeit ermöglichen, dass auch der Geist, wieder auf Radha-Krishna gerichtet werden kann und die Tendenzen der Verzettelung, der assoziativen Verfremdungen durch die sprunghaften Ablenkungen, sich auflösen aufgrund der intensiven Sambandha (dem Verbundenheitsgefühl zu Ihnen). 

 

 

Krishna will aber nicht nur die Dinge, sondern auch unser Selbst.

„Lieber Krishna, Du versicherst mir, dass nicht das Was und Wo und Wann in meinem Dasein wichtig sind, sondern Du möchtest das Wie, denn nur darin wohnt mein wirkliches "Ich". Du willst mich als Gabe und nicht die bereits Dir gehörenden Dinge.“

 

Im „Saranagati“ wird dies als Atma-nivedana, die Selbstgabe, bezeichnet.

 

manasa, deho, geho, jo kichu mor
arpilu tuwa pade, nanda-kisor! 

Geist, Körper, und Familie, und alles, was ich mein nannte, lege ich nun zu Deinen Füssen hin. Sie gehören nun Dir, O Nanda kishor. 

marobi rakhobi - jo iccha tohara
nitya-dasa prati tuwa adhikara 

Wenn Du möchtest, kannst Du mich töten, oder auch leben lassen. Ganz wie es Dir beliebt. Denn Du bist mein Meister und ich Dein ewiger Diener. 

 

janaka, janani, dayita, tanaya
prabhu, guru, pati--tuhu sarva-moya 

Vater, Mutter, Geliebter, Sohn, guru, Meister und Gemahl; Du bist alles für mich. 

‘amara’ ami to’ natha! na rohinu ara
ekhona hoinu ami kebala tomar 

 

Nun gehöre ich nicht mehr mir selbst. Ich gehöre Dir ganz allein. 

‘ami’ sabde dehi jiba ahamta charilo
twadiyabhimana aji hrdoye posilo 

 

Die Seele, die diesen sterblichen Körper bewohnt hat nun ihr missverstandenes "Ich" aufgegeben, und nun ist das Gefühl "Dein" zu sein, Dir zu gehören, ins Herz zurückgekehrt. 

 

tumi grha-swami, ami sebaka tomara
tomara sukhete cesta ekhona amara 

 

Du bist der Herr meines Hauses. Und ich bin Dein Dir gehorchender Diener. Deine Freude ist nun mein einziges Bemühen. 

bhalo-manda nahi jani seba matro kori
tomara samsare ami bisaya-prahari 

 

So kenne ich weder gut noch schlecht. Ich diene einfach. Ich bin einfach der Wächter, der Dein Eigentum in Deinem Haus hütet. 

 

‘aham’ — ‘mama’-abhimana charilo amaya
ar jeno mama hrde stana nahi paya 

Das Konzept von "Ich" und "Mein" haben mich nun endlich verlassen. Mögen sie nie wieder Eintritt finden in meinem Herzen. 

 

 

In der Arati löst man sich also von dem Persönlichkeitsbild, das aus der Gemeinschaft und Erfahrung mit dieser Welt entstanden und geformt wurde - und erst diese Abkopplung ermöglicht Zugang zur Wirklichkeit. 

Als Anfänger beginnt man sich zuerst allgemein als ewige Seele zu verstehen, als Diener Gottes und durch den weiteren Fortschritt erkennt man sich in seiner siddha-rupa, wo man in einem perfekten ewigen Körper im ewigen Spiel Gottes teilhat. 

 

naaham vipro na ca nara-patir naapi vaishyo na shudro

naaham varni na ca griha-patir no vanastho yatir vaa 

kintu prodyan-nikhila paramaananda-purnaamritaabdher 

gopi-bhartuh pada kamalayor daasa-daasaanudaasah 

 

“Ich bin eine ewige spirituelle Seele. Ich bin nicht ein Gelehrter, kein Menschheitsführer, Händler oder Arbeiter Ich kann mich mit keiner der Tätigkeitsrollen identifizieren (varnas). Noch bin ich ein Mönch, Haushälter, Zurückgezogener oder Sannyasi. Meine Identität ist nichts anderes als ein Diener des Dieners eines Dieners der Lotosfüsse Sri Krishnas, des Geliebten der Gopis zu sein. (Gopinath hat eigentlich nur Dienerinnen..) Krishna ist ein unbegrenztes Reservoir von transzendentaler Freude.“ (Chaitanya Charitamrita Madhya 13.80)

In diesem Mantra betet man, in seiner ewigen Identität Gott wirklich begegnen zu wollen, jenseits der physio-psychologischen karmischen Maske. 

Wird die Arati im Verständnis und später dann sogar in der Verwirklichung als ewig spirituelles Wesen dargebracht (als Gopi oder Manjari) entfallen die Ingredienzen dieser Welt und der vor Sehnsucht glühende Blick zur bezaubernd schönen Form Gottes wird zum Ghee-Lämpchen und die Prema (die reine Gottesliebe) wird zum Duft, der für Krishna anziehend wird, welche auf der physischen Ebene durch das Räucherstäbchen repräsentiert wird. 

 

In der Arati lässt man sich umhüllen vom kontemplativen Gebet, dem Singen der Heiligen Gottesnamen, welcher immer wieder neue Einblicke in die ewige Cit-Welt offen legt. 

 

Während der Arati übergibt der Praktikant alle materiellen Elemente, die das reine Bewusstsein verfärben und die Wünsche als etwas anderes erscheinen lassen, dem Herrn, von dem alles ausgeht. Das ist die radikale Rückbeziehung aller Existenz. 

Im Verlaufe dieses Vorgangs wird man den vorherrschenden Gottheiten der Elemente (Devas) begegnen und erkennen, dass sie ja alle auch in der Verehrung von Radha Krishna tätig sind und einen auch behilflich sein möchten im Bestreben unserer Heimkehr. Dann endet der Kampf mit der Welt. Dies stellt die letztliche Versöhnung dar, wo aller Kampf mit den Umständen der Welt eingestellt wird. 

 

Die Integration all dieser Erkenntnisse und Verwirklichungen führt zu „bhava-suddhi“, der Reinheit des Bewusstseins des Lebewesens, was die Konzentration und Absorbationsfähigkeit intensiviert – die Seele tritt ein in die transzendente Dimension der lila Gottes – und das Ritual wird zur Wirklichkeit. 

Deityverehrung ist dann der direkte Dienst zu Radha Krishna. 

 

Die Arati ist eine Bewusstseinsklärung, ein Ritual, das zu einem höheren Wirklichkeitsverständnis führt, aber birgt gleichzeitig auch Realität in sich. Es ist die Natur von Suddha-bhakti, gleichzeitig Weg und Ziel zu sein und gemäss dem individuellen Bewusstsein nimmt man es verschieden war, denn die Tätigkeit des Dienens setzt sich auch nach dem Punkt der Befreiung von allen materiellen Bindungen weiter fort – in der spirituellen Welt. 

Arati als Ritual, als Eintritt in einen Raum der Verwandlung des eigenen Selbst ist für Sadhakas, Übende in dieser Welt. Aber auch die ewig perfekten Seelen, die Gopis in Vrindavan führen Arati aus, in einem gänzlich anderen Verständnis. 

In Raganuga-bhakti (der Gottes-Hingabe, die sich nicht nach Vorschriften orientiert und von der Angst der Wiedergeburt motiviert, sondern von der leidenschaftlichen Gottesliebe der ewig Beigesellten von Radha-Krishna, den Ragatmika-jana) ändert sich auch die Bedeutung des Rituals. In der Meditation erinnert sich der Übende an das ewige Lila Radha-Krishnas in der ewigen Welt, einer Sphäre jenseits von allem Raum- und Zeitverständnis und feiert die Arati wie es Yasoda und Nanda Maharaja, die Kuhirtenfreunde und die Gopis tun. Da bezieht man nicht mehr Gott auf unsere Welt, sondern sich selber in die Welt Gottes. Dort ist also der Ursprung der Arati zu finden und ihr Nachfeiern in dieser Welt ist ein „Importprodukt“ in den begrenzten Raum dieser Welt hinein. 

 

Nachdem Radha-Krishna die ganze Nacht im Rasalila in den Wäldern von Vrindavan getanzt haben, legen sie sich in einem Blumenhain auf ein Bett von Blütenblättern hin. In den ganz frühen Morgenstunden beginnen dann viele Vögel zu Ihrer Freude zu singen und die Manjaris (Radharanis engste Gefährtinnen) wecken sie sanft aus ihrem Schlummer. In grosser Freude bringen sie Dienste dar. Diese Einblicke werden in der Mangala-Arati (der ersten Morgenzeremonie im Tempel) nachgefeiert. 

Zum Sonnenuntergang kehrt Krishna mit seinen Kuhirtenfreunden und den Kühen nach Vrindavan zurück. Alle Einwohner Vrindavans haben den ganzen Tag ungeduldig in grosser Trennung zu Krishna diesen Moment erwartet. Vom Palastdach erblickt ihn Nanda-maharaja, Sri Krishnas ewiger Vater, von weitem. Ganz Vrindavan kommt für dieses Ereignis zusammen und sie nehmen Krishna durch das Medium ihrer Augen in das Herz auf, um Ihn da zu umarmen. 

Dekoriert mit dem Staub der Hainen Vrindavans, der von den Hufen seiner Kühe aufgewirbelt wurde – Sein schwarz gelocktes Haar ist leicht grau – sieht Krishna nun noch schöner aus als am Morgen, wo Ihn Mutter Yasoda geschmückt in die Wälder ziehen liess. Yasoda umarmt Ihn und tadelt Ihn liebevoll für die Verspätung und preist Madhumangala, dass er heute Krishna wohlbehütet zurück brachte. Währenddessen bringt Rohini ein Gheelämpchen und inspiziert Krishnas Körper nach Kratzern, welche Ihm die Dornen und das wilde Spiel der Kuhhirten zufügten – die aber eigentlich von Seinem geheimen Treffen mit den Gopis herrühren.... 

Das ist das Bild der Abend-Arati. Jetzt wird es zur A-rati, zu dem, was rati, leidenschaftliche Gottesliebe hervorruft. 

Diese Lampe vertreibt die Dunkelheit und verbindet Krishna mit Seinen Geweihten und befreit sie von allem Leid der Trennung. Das Licht der Liebe der Bhaktas wird der Krishna-Sonne dargebracht, was die Liebeslampe nur noch mehr erhellt.