Studium der heiligen Schriften
Wenn das Auge auf dem gedruckten Wort ruht - auf ihm ruht! - senkt sich dieses langsam in unser Inneres ein, und wird dort zu einer Kraft, die wie ein Generator für unsere Wiedererweckung von Krishnabewusstsein ist.
Wir haben zu viel zu bedenken und zu besorgen und zu tun in der Welt. Die Gedanken um Krishna und für meine Beziehung zu Krishna finden zwischen so vielen Dingen, die mich beschäftigen, nicht
einen rechten Raum, sie können mich nicht wirklich greifen und berühren, ansprechen - wenn sie nicht durch ausdrückliches Heranholen und Verarbeiten bewusst und gewollt in den Alltag
hineingestellt werden.
Eben durch das Lesen - das Heilige Studium.
Genau hier habe ich meistens eine Ausrede, eine Flucht vor dieser Begegnung: mein Mangel an Zeit. Dies beweist nur, dass etwas in meiner Lebensführung nicht in Ordnung ist - und zwar etwas
Entscheidendes. Das Dasein kann nicht so aufgebaut sein, dass für das Wesentliche die Zeit fehlt.
Dann lasse ich einiges fort, das ich bisher als unumgänglich betrachtete: Zeitung zu lesen, überflüssiges Gerede mit Bekannten, Ausschweifungen im Geist. Wer will, rafft sich so eine Stunde
täglich zusammen, die er der Heiligen Lesung schenken kann.
Es ist unumgänglich, dass sie zu etwas Regelmässigem wird in meinem Tagesablauf und dass man an ihr festhält, auch wenn man einmal "keine Lust" verspürt. Die Lesung wird dann zum täglichen Brot,
ganz selbstverständlich, und bald auch einfach unentbehrlich. Denn weniger als täglich zu lesen ist spirituelle Unterernährung.
Wie das Gefühl des Hungers ein Zeichen für die Gesundheit des Körpers ist, so ist der lebendige Wunsch, Krishnas Worte zu hören, das sicherste Zeichen des gesunden Seelenzustandes.
Spirituelles Lesen ist anders als das gewöhnliche Studium - es soll vorbereitet werden.
Es beginnt mit einem innigen Gebet, dass es fruchtbar werden möge. Man setzt sich dabei nicht ein bestimmtes Ziel, denn dies bleibt Krishna überlassen, was Er in der Seele bewirken möchte. Es
geht ja auch gar nicht um "Bestimmtes", sondern nur darum, die Zeit ganz bewusst Sri Krishna zu schenken.
Diese Lesung wird nicht kritisch (wenn ich mir nur den Kopf zerbreche ob anscheinender Widersprüche, nehme ich nicht viel mit) gemacht, sondern mitfühlend, mit sehnendem Herzen. Nicht aus Neugier
und Wissbegierde, sondern aus verlangender Liebe. Diese Lesung ist kein Studium, kein Urteilen über das Dargelegte, sondern ein Hören. Gehören. Horchen und Gehorchen.
Besserwissen, Be- und vorallem das Ver-urteilen will ich in diesem heiligen Bereich beiseite lassen.
Es geht ja nicht um Informationsaufnahme, sondern um eine Begegnung, dass Sri Krishna mich persönlich adressiert und anspricht.
Ich muss auch nicht ein Experte werden im Buch, aber einfach Krishna zuhören, der sich an mich wendet. (Vallabha Bhatta konnte das Srimad Bhagavatam auswendig, aber Sri Caitanya ignorierte ihn.)
Ich muss nicht Kapitel oder Bücher lesen, aber überwältigt werden von Wertschätzung.
Es geht auch nicht um das Bewältigen einer bestimmten Anzahl von Seiten, ein Erledigen der spirituellen Aufgabe. Nicht je schneller, sondern je langsamer und andächtiger jemand liest, desto mehr
Gewinn. Das Durchjagen schadet sogar und statt die Sehnsucht nach Krishna durch solches Lesen zu vergrössern , schafft es bald Langeweile und man legt alles beiseite.
Denn: was man da liest, "weiss" man ja sehr oft schon, hat es ähnlich wohl schon gehört oder selbst gelegentlich gedacht. Es geht eben wirklich um etwas völlig anderes: Krishna nahe zu sein durch
das Mittel der sastras (Offenbarungsliteratur). Und da liegt eine ganz grosse Ähnlichkeit mit dem Gebet.
Wir müssen lernen, auf die ganz leisen Anregungen zu achten, die Krishna uns darin offenbaren möchte.
Es ist nicht weise, das Studium der Heiligen Schrift aufzugeben, nur weil es gerade trocken erscheint und scheinbar nicht erwidert. Gerade an solchen Tagen kann man sehr viel lernen, denn
wichtiger als meine zeitweilige Stimmung ist die absolute Tätigkeit, sabda brahman (Gott in Form von Klang - seine gesprochenen Worte als Schrift) zu kontaktieren.
Es ist ähnlich wie bei sportlicher Tätigkeit: je länger ich pausiere, desto weniger bin ich in Form und die Rückkehr wird härter.
Trockenheit resultiert aus Übervertrautheit mit einer Passage. Mayadevi flüstert mir ein, ich wüsste bereits alles. Hier muss ich innehalten und verstehen, dass die sastra mehr Tiefe enthält als ich momentan verstehen kann. Eigentlich ist dieser Inhalt zu tief für Worte...denn in ihnen inkarniert spirituelle Realität.
Man denkt über das Gelesene nach. "Jemand, der diese heilige Worte an sein Herz heran lässt, verehrt Mich mit seiner Intelligenz" (Sri Krishna in der Bhagavad Gita, 18.70)
Am Ende des Bhagavatam findet sich eine eindrückliche Beschreibung, wie die Vedas nicht Schriften sind, sondern allgegenwärtiger Klang, der in seinem eigenen Herzen aktiviert werden kann durch
das Einstellen der unnötigen Bemühung, sich von Krishna fern zu halten.
Denn nie könnte sich der allgegenwärtige Vishnu vor uns verstecken, würde sich nicht unser Auge freiwillig schliessen vor Ihm.
Von dem Wort, dem "heiligen Wissen" oder Veda, wird gesagt, dass es ungetrennt von Gott ist und dass es alldurchdringend und allerfüllend ist wie Gott selbst. Dieses Wort ertönt, ob eine Welt ist
oder keine Welt ist.
Der Pfad der vedischen Offenbarung ist ein Pfad des inneren Hörens (shrauta-pantha). Veda wird manchmal auch shruti genannt, das heisst: inneres Hören, das Lauschen, ein Vernehmen, das
gleichzeitig Schauen ist.
Veda ist, genau so wie Gott, ewiglich da. Und immerdar tönt es, freilich nicht mit irdischen Ohren vernehmbar. Ob und in welcher Klarheit die Offenbarung vernommen wird, liegt nicht an dem Wort,
sondern das liegt an der Art der Empfangsorgane, das hängt ab vom Grad der Gottabgewandtheit oder Gottzugewandtheit der Seele und wie dicht der Wolkenschleier der Maya ist, der die Seele
bedeckt.
Man ist fähig, diesen feinen Klang der Vedas wahrzunehmen, wenn man alles äussere Hören einstellt. (SB 12.6.37)
Diese Vibration von spirituellem Klang erscheint zuerst im Raum des Herzens, (Hridi-akash - das ist der Resonanzraum, der notwendig ist, wenn man spirituelles Wissen aufnehmen möchte), der
entsteht, wenn der Geist vollkommen im Gleichmut verankert ist.
Im vierten Kapitel der Bhagavad Gita (4.26) spricht Krishna vom Opfer des Wissens, bei dem man den Vorgang des Hörens im Feuer der Beherrschung des Geistes opfert.
Und durch die Ehrung dieser allegenwärtigen subtilen Form der Vedas, wird sie im Herzen erscheinen und beginnt in einem zu wirken, sodass man freier wird von der Verunreinigung des Einflusses der groben Materie auf das eigene Bewusstsein (es ist also nicht der Kontakt mit der Materie in sich, der verunreinigend ist, sondern nur die innere Haltung in mir, die mir glauben lässt, dass sie verschieden sei von der absoluten Wahrheit, etwas "Zweites". Die Wahrnehmung, dass die spirituelle und die materielle Welt zwei sind, kettet Menschen, die sich um eine spirituelle Sicht bemühen, vielleicht am stärksten an die Dualität und hindert sie, alles gleichmütig und gleich wohlwollend zu betrachten.) Allein durch das feine Verehren des Verständnisses der Allgegenwart der Vedas (das "dankbar" darüber sein, dass Veda mich eigentlich immer begleitet und in jedem Moment wieder erweckt werden könnte), wird man auch frei von der Haltung, selber Tätigkeiten ausführen zu können ohne die Sanktion der Überseele (diese Haltung nennt man ahankara, falsches Ego - BG 3.27, 5.8-9) SB 12.6.38
Aus diesem subtilen, allgegenwärtigen vedischen Klang geht das OM hervor. Und dieses heilige OM (der Same allen vedischen Klanges) hat unmanifestierte Kräfte (so wie eben im Samen der gesamte Baum gegenwärtig ist) und er manifestiert sich von sich selbst (sva-rat) in einem gereinigten Verstand. (SB 12.6.39)
Diese transzendentale Klangschwingung OM (es ist die Stimmung in der Seele ständig, überall, sowohl direkt als auch indirekt, diesem Gott begegnen zu wollen - 2.9.36), die im Grunde gar nicht physisch hörbar ist für die Seele, wird von der Überseele im Herzen gehört, die keinerlei materielle Sinne besitzt. Und da Sie erfreut ist, setzt sie ewiges Wissen, Veda, in das Herz dieser schreienden Seele. (SB 12.6.40)
Hier erklärt das Bhagavatam das universale Prinzip, dass ich gar nie mehr Erkenntnis aufnehmen kann als die, für welche ich anfrage. Deshalb ist pariprashna, das "Danach-Fragen" essentiell und soll niemals versiegen, auch nicht nach vielen Jahren spiritueller Auseinandersetzung.
Einfach durch die Meditation über Krishnas Lotosfüsse (seva-dhyan - über hingebungsvoller Dienst) wird man fähig, die Heiligen Schriften zu verstehen. (SB 12.6.35) Es ist Offenbarung und nicht Selbstaneignung.
Die gesamte Ausdehnung von vedischem Klang verbreitet sich von diesem Omkara aus. Dieses vedische Wissen wird von der Überseele in diesem Hrdi-Akash, dem Raum des Herzen, entfaltet.
(SB 12.6.41)
In der Bhagavad Gita drückt Krishna dieses Sich –Lösen von der reinen Schriftbedeutung der Sastras folgendermassen aus:
Was ist ein Brunnen wert, wenn auf allen Seiten das Wasser sprudelt? Genauso wertlos sind alle Vedas für denjenigen, der die Inhalte von ihnen überall wahrnimmt. (BG 2.46)
Es gäbe hier noch viele weitere Erklärungen im Bhagavatam selber, die aufzeigen, dass das wirkliche Studium von Veda nicht einfach das Lesen eines Buches ist, das wir oft tun als eine Unterhaltung, sondern dass dies allein ein sehr mystischer Vorgang darstellt, eben Verehrung.