Was ist ein Murti?

Gott ist in seiner Allumfassenheit ewiglich parallel existent als allgegenwärtige und alldurchdringende Energie und auch als bewusste Wesenheit, als Individualität.

Das bedeutet, dass Er gleichzeitig immanent, allgegenwärtig ruht in allem, was ist, und transzendent, weit jenseits aller weltlichen Schöpfung, in einem ewigen spirituellen Reich einen liebevollen Austausch mit befreiten Lebewesen geniesst. Eine besondere Form seiner Immanenz, seiner Gegenwart innerhalb aller Existenz, ist das Murti.

In der deutschen Sprache kommt wahrscheinlich der Begriff „Ikone“, Abbild einer göttlichen Wirklichkeit,  dem  Sanskritwort "Murti" am nächsten.

Da der Ursprung von allem, immer auch alle Eigenschaften seiner Emanation in sich birgt, so hat diese Individualität Gottes auch eine transzendentale, jenseitige  „Formhaftigkeit“, die aber im Gegensatz zu allen Formen dieser Welt in keiner Weise begrenzt ist, und von ganz anderer Natur ist als alles im Bereich unserer Erfahrung.

Wie erfahre ich nun über diese Form? Ausschliesslich durch Offenbarung. Die Murti-Form ist also ein Geschenk Gottes.

 

Bhakti Rakshaka Sridhara Maharaja schrieb:

 Wir müssen uns aus der Schlinge befreien, die Wirklichkeit mit der physischen Form gleichzusetzen, die wir mit unseren Sinnen erfahren. Indem wir die äusserliche Auffassung ausschliessen, erwerben wir die Bereitschaft, in die Innere einzudringen.

Alles um uns herum erscheint in einer (grob und fein-) sinnlich wahrnehmbaren Form, die dann in uns aufgeschlüsselt werden muss (auch Gebete, der Heilige Name, die offenbarten Schriften und das Murti).

 

"Der Krishnaname ist nicht erfassbar

durch irdische Sinne.

Doch wenn ein Mensch in der Sehnsucht

nach liebendem Dienen

das Antlitz seiner Seele Gott zuwendet,

dann offenbart sich der göttliche Name von selbst

auf der Zunge des Singenden." (Padma Purana)

 

Genauso wie man den heiligen Namen weder singen noch hören kann mit weltlichen Organen wie Zunge und Ohren, so ist auch der Murti nicht sichtbar mit den Augen dieser Welt.

 

"Wenn man sich dieser subtilen transzendenten Wirklichkeit bewusst wird (also eine Vergegenwärtigung im Inneren, eine meditative Kontemplation), sie verehrt - im Innersten wertzuschätzen beginnt - dann manifestiert sie sich aus sich selbst heraus. " SB 12.6.38-39

 

 

In der Bhagavad Gita erklärt Krishna, wie die Wahrnehmung gefärbt ist vom Bewusstsein, der Erkenntnis und den vergangenen Erfahrungen der Person (17.1-3). Zu Beginn einer spirituellen Praxis sieht man den Murti als Materie (jadamaya). Es ist vielleicht wie ein Symbol für das Transzendente, eine Möglichkeit der Ausrichtung meines Bewusstseins, durch das ich wieder ausgerichtet werde auf meine eigentlichste Beziehung.

Es ist nicht eine Verehrung von Materie, aber man erfährt momentan nur den Umgang mit der Materie.

„Das Murti  ist eine Form aus "sthula" (materiellen Elementen). Da die Geweihten sich nach Ihm sehnen, erscheint er ihnen in dieser materiellen Repräsentation. Das Unsichtbare wird sichtbar in ihm.(SB 4.12.17).

 

So wie in der Bibel beschrieben ist, dass Gott sich IN dem brennenden Dornbusch zeigte, so manifestiert sich Krishna vorerst im Deity. Der Spiritualist muss sich immer bewusst sein, dass er nicht Materie, sondern Krishna hinter der Materie ehrt.

 

Denn: bhutani yanti bhutejya "Diejenigen, die Materie verehren, werden stumpf wie Materie und bleiben in der Materie ." (BG 9.25)

Nirgendwo wird in den heiligen Schriften die Verehrung von Materie empfohlen. Dies wäre Götzenverehrung.

 

“Der Hauptzweck von heiligen Bildern liegt nicht darin, ein ästhetisches Vergnügen zu bescheren. Sie dienen als ein Fokussierungspunkt für das Heilige. Sie sind aus Meditation und innerer Schau entstanden und sollen den Betrachter in diesen Bewusstseinszustand und in das Verständnis transzendenter Realität zurückführen.  Wenn sie Schönheit in sich tragen, dann nur dann, weil sie wahr sind.

(Dr. Alice Boner, Schweizer Indologin und Ehrendoktorin der Universität Züruch in “Principles of Compositions in Hindu Sculpture”)

 

Mit dem spirituellen Fortschritt erkennt man, dass das Murti alles sieht und wahrnimmt, man hat Vertrauen, dass das Murti seine Gedanken sieht und die Gebete und die Haltung der Verehrung annimmt. "So wie ein krankes Auge, das mit einer Heilsalbe behandelt wird, langsam die Fähigkeit des Sehens wiedererlangt, so erlangt auch das bewusste Lebewesen, je mehr es von der materiellen Verunreinigung durch regelmässiges Hören des Heiligen Namens und der Erinnerung an Radha-Krishna gereinigt wird, die Fähigkeit, die reine subtile Form des Herrn zu sehen, der weit jenseits der Materie existiert." (SB 11.14.26)

 

Dieser innere Darshan (Begegnung) beginnt, indem man die Form, die man mit den Sinnen wahrnimmt, die äussere Form des Murti, im Herzen aufnimmt. Dann beginnt man mit Erkenntnis diese Form im Innern zu verehren. Ein Anteil reiner Liebe mag noch vermischt sein mit materiellen Projektionen und Hoffnungen des Geweihten. Aber Krishna erwidert, indem Er sich seinem geliebten Diener Schritt für Schritt seine eigenen Vorstellungen sterben lässt und Sich in seiner wahren, transzendenten Individualität schenkt.

„Derjenige, der Verehrung ausführt, soll vorerst über die subtile Form des Herrn, meditieren, wie Er der Ursprung aller Lebewesen ist, und der im Herzen des Verehrers bereits gegenwärtig ist.  Diese Form wird im Nachhall (auch hier wird auf die nicht-materielle Existenz hingewiesen) des Heiligen Namen Gottes erfahren.“ (SB 11.27.23)

Ohne diese Vergegenwärtigung wird die Verehrung wertlos.

"Jemand, der den Murti verehrt, jedoch nicht versteht, dass der Höchste Herr als Paramatma im Herzen eines jeden Lebewesens weilt, muss in Unwissenheit sein und wird mit jemandem verglichen, der seine Opfergaben der Asche darbringt.“ (SB 3.29.22)

 

Nach diesen rein inneren Meditationen mag der übende Spiritualist wieder aus seiner Versenkung herauskommen, und er wird vorerst seinen Herrn im Murti direkt erkennen (er nimmt dann nicht mehr die weltliche Form dieser Gestalt wahr) Allmählich erweitert sich diese Liebe - und der praktizierende Spiritualist erkennt, dass alles von seinem Herrn umhüllt und durchdrungen ist, letztlich sieht er seinen Herrn überall.

 

Diese Verwirklichung wird auch von Ramananda Raya im Caitanya Caritamrta ausgedrückt:

 

sthavara-jangama dekhe, na dekhe tara murti

sarvatra haya nija ista-deva-sphurti  ( Madhya 8.274)

 

"Er vermag nicht mehr die sich bewegenden und nicht bewegenden Dinge dieser Welt wahrnehmen - in allen Richtungen erkennt er nur noch seinen geliebten Herrn, sein Murti."

 

Bereits in dieser Welt existiert eine Korrelation zwischen dem Bild einer Person und der Person selber (es kann über das Bild geheilt und die Aura gelesen werden etc). Je höher nun ein Lebewesen ist in der kosmischen Hierarchie, desto lichter und durchlässiger ist die Bedeckung, die Hülle des Körpers, die die zugrundeliegende Seele, das eigentliche Individuationsprinzip, begrenzt. Deswegen ist in einem dreidimensionalen Abbild eines Deva (wie zum Beispiel Ganesha) das Lebewesen in viel stärkerem Bezug mit der eigentlichen Person, wie dies im Abbild eines von einem grobstofflichen Körper bedeckten Menschen der Fall ist. Er ist im Murti gegenwärtig.

Bei Gott, vollkommen jenseits dieser Welt, existiert überhaupt keine Dualität mehr zwischen Körper und Selbst. Es ist eine Einheit zwischen dem Wesen Gottes und Seiner ewigen Erscheinungsform. In seiner Absolutheit gibt es keinen Unterschied zwischen Ihm, Seinem Namen und Seiner Form.

Aus tiefem Mitleid uns gegenüber erscheint der Höchste Herr in Seiner Murti-Form, dass selbst bedingte Seelen in dieser Welt, deren Augen noch nicht mit der Gottesliebe gesalbt sind, (die es einen erlauben würden, Ihn überall wahrnehmen zu können) Ihn sehen und verehren können.

Wenn wir wieder beginnen einzuüben, unsere Sinne auf Ihn zu lenken (Seine Form zu sehen, für Ihn zu kochen, Seinen Namen zu preisen, Sein Prasad (die Ihm geweihte Speise) zu essen, und lernen, wie alles in der Welt Gott gehört und auf Ihn bezogen werden sollte, und dass ich eigentlich nur der Verwalter Seines Besitzes bin, werden die ewigen spirituellen Sinne reaktiviert, und transzendentale Wahrnehmung erwacht. Erst dann dämmert im Bewusstsein die Verwirklichung, dass Krishna wirklich persönlich im Murti gegenwärtig ist.

Die Beziehung zum Murti lehrt den Übenden in der Welt, alle seine Sinne wieder in ihrer ursprünglichen Funktion, nämlich in Yoga – in der Beziehung zu Gott – einzusetzen, und auf diese Weise die Fähigkeit einer direkten Gottes -Wahrnehmung wiedererlangen.

Das Murti ist Theophanie, ein Aufleuchten Gottes inmitten dieser Welt.

Das Bhagavatam (3.29.25) lehrt, dass man Krishna solange in seiner sichtbaren Gestalt als „murti“ehren solle, bis man seine direkte Gegenwart im eigenen Herzen und in den Herzen aller Wesen direkt wahrnimmt.