Bettlermentalität

Es gibt eine Geschichte von dem Bettler, der auserkoren wurde, die Nachfolge des alternden Königs anzutreten. Die Diener badeten und salbten ihn, kleideten ihn in prächtige Gewänder, servierten ihm üppige Speisen. Als der Hof am nächsten Morgen versammelt war, um der Krönung des neuen Königs beizuwohnen, war der Bettler unauffindbar. Verzweifelt schwärmten Reiter des Hofes aus, um nach ihm zu suchen. Einer fand ihn schliesslich bettelnd am Wegesrand im Staub sitzend. "Aber Sir, was machen Sie denn hier?", fragte ihn der Hofdiener. Der Bettler schaute ihn nur verständnislos an und erwiderte: " Wieso? Ich bettle jeden Morgen um diese Zeit." 

Die Rolle des Bettlers ist eine der wesentlichen Identitäten, die der bedingte Geist angenommen hat. Er ist ein ewig hungerleidender Geist, der die Hand nach aussen streckt, um von aussen Wert in diese Hand gelegt zu bekommen, weil er nicht erkennen will, dass das Gold innen bereits vorhanden ist. Diese nach aussen gestreckte bettelnde Hand muss nach innen zurückgenommen werden. Dadurch wird das Ausmass der inneren Armseligkeit mangels Kompensation, mangels Substitution, überhaupt erst offenbar, aber ebenso der Schmerz und die Sehnsucht nach Intimität, was ja nichts anderes ist als die Sehnsucht nach der inneren Beseelung, nach der Intimität mit dem Gott. "Innere Arbeit" vollzieht diese Kehrtwendung und richtet sich auf möglichst direktem Wege auf die Knotenpunkte inneren Leidens, die sich durch vollkommene Aufmerksamkeit in Nichts auflösen.

Die meisten Menschen wissen gar nicht, womit sie sich eigentlich identifizieren, das heißt, sie wissen nicht, wer sie zu sein glauben. Normale Menschen leben nicht mal in der Dualität.

Würde man in der Dualität leben würden, dann wäre das der Zustand des bewussten Leidens. 

Aber die meisten leben in einerdumpfen verschwommenen Welt, in der undifferenzierte Einheitserfahrungen, die eigentlich zwei sind, vermischt sind mit Zweiheitserfahrungen, die eigentlich eins sind.

  

Diese Bettlermentalität spiegelt den tiefen Minderwert wider, mit dem der Suchende in dieser Kehrtwendung nach innen in Berührung kommt.

Doch dieses erniedrigte Selbstwertgefühl, welches eigentlich ein heruntergekommenes Ich-Konzept ist, muss zunächst in Balance gebracht werden - das ist die Ebene der Ego-Stärkung - bevor Transzendenz möglich wird. Der Weg der Ich-Überwindung setzt eine Ichentfaltung voraus. Nur ein entfalteter Lotus öffnet sich in den Himmel – viele glauben, Egovermeidung sei der Weg zur Erleuchtung. Aber auch daraus gilt es kein neues Konzept zu machen, welches die Freiheit in die Zukunft projiziert: "Erst muss ich mein Ego stärken, dann kann ich frei sein." Denn das Ego missbraucht jede Weisheit, um das Leiden zu rechtfertigen.