In den Riss hineinfallen

Entweder man will irgendwohin oder man will von irgendetwas weg oder beides. Das ist, was wir im Normalfall „unser Leben“ nennen. Von irgendwas weg und irgendwohin. Es kostet Kraft, von irgendwas wegzukommen. Von was wollen wir weg? Nun, wir wollen weg von dem, was wir die Vergangenheit nennen. Kein Mensch dieser Erde, auch nicht der Glücklichste, möchte eine exakte Wiederholung seiner Jahre hier noch einmal durchleben. Und wir wollen hin, wo wir die Zukunft vermuten. All unsere unerfüllten Wünsche sind es, die die Zukunft ausmachen.

Die Enttäuschung, die Last, die Schuld, die Kindheit - all das sind nur verschiedene Begriffe für das, was unser Leiden der Vergangenheit ausmacht. Und davon wollen wir weg. Es ist die Idee dieses Geistes, der, - ohne es wirklich begriffen zu haben - meint, die Schwere des Leidens liege in der Vergangenheit und die Erfüllung, die Leichtigkeit der Phantasie, der Erfüllung unserer Wünsche, liege in der Zukunft. So bewegen wir uns auf dieser Achse – dem eingeschränkten Bereich der materiellen Dualität.

 

Immer weg von dem, was uns hält oder zu halten scheint, aber was wir doch nicht ganz abschütteln können – weil wir an der Achse der materiellen Dualität festhalten: der Hoffnung auf eine erfüllte Zukunft, dem Paradies im Morgen.

 Es scheint wie ein Schatten zu sein, den wir zu überspringen versuchen. Und das scheint niemandem wirklich zu gelingen. Es spielt keine Rolle, was in dem begraben liegt, was man seine Vergangenheit nennt. Es spielt in letzter Instanz von dem absoluten Verständnis derv Ewigkeit aus betrachtet überhaupt keine Rolle, welche Erinnerungen in seiner Vergangenheit gespeichert sind: Alles, was festgehalten ist, was unterdrückt ist, was nicht gehen gelassen wird, was nicht Krishna zu Füssen gelegt wird, was nicht einfach sein gelassen wird -  ist eine Last. In meiner wirklichen Identität als ewige Seele habe ich keinen Berührungspunkt damit. Identifikation mit etwas, mit dem ich vom Wesen her nichts zu tun habe, ist unnötiges Leid. Das Ewige hat weder Vergangenheit noch Zukunft.

 

Und in der Zukunft, zu der man schnellstmöglich, irgendwie gehetzt, hin will, und die alles enthält, was man glaubt, noch erreichen zu können oder zu müssen, alles, was man glaubt, wiedergutmachen zu müssen oder zu können – diese Zukunft  ist auch eine Last. Denn sie stellt sich die Lösung innerhalb des Schalfens in der Dualität vor.

 

In dieser Zukunft liegt das Versprechen der Erlösung, das Versprechen von Leichtigkeit, die Erlösung von dem, was man in der Vergangenheit festgehalten hat. Diese Last der Zukunft – sich selber als Teil der Zeit zu sehen – wiegt noch schwerer, da sie Freiheit verheisst. 

 

Und so bewegt sich der Geist auf dieser Achse der Dualität. Wo hält man an? Wo hält man inne in dieser endlosen Flucht einerseits und diesem endlosen Streben andererseits?

 

Satsang ist Anhalten. Anhalten ist, wenn man einen Moment bereit ist für den Riss, den Riss in der Zeit. Im Anhalten dieses Momentes erkennt man die Freiheit von allen Lasten. Man darf getrost in diesen Riss der Ewigkeit, in das Verweilen hineinzufallen. Ein normaler Mensch lebt in Zeit und Raum, und ahnt nichts von einem Riss, aber dieser Riss ist die Einladung an die Seele. 

 

Dieser Riss kann nur erkannt werden, wenn der amnipulative Einfluss auf die äussere Umgebung aufgegeben wird. Wir versuchen immer wieder in die Erinnerung hineinzugehen, weil wir nicht im Frieden mit dem Gegenwärtigen sind. Wir versuchen immer wieder, irgendetwas zu verändern, so als könnten wir einen Film, der bereits gedreht worden ist, im Nachhinein manipulieren. Aber dieser Film ist gedreht worden, von uns selbst in der Vergangenheit. Entscheidend ist die Möglichkeit, diesen Riss zu sehen in diesem Moment, und dieser Riss ist in jedem Moment. Es ist der Ausstieg aus diesem horizontalen Denken in Raum und Zeit. Und das ist der ganz natürliche Eintritt in Meditation. Die Meditation ist nicht abhängig von Übungen, nicht abhängig von irgendwelchen Praktiken. Sie geschieht einfach in dieser Bereitschaft anzuhalten. In welcher Trance, in welchem Gehetztsein man sich auch immer befindet – man hält an, man hält inne… erinnert sich, ewig zu sein, eine Seele zu sein. 

 

 

Genau dies wurde einem nie gelehrt. Unter Ausbildung verstand man Techniken, seine Existenz zu sichern. Erziehung, Schule sind Lehranstalten, die einem ausschließlich das horizontale Denken beibringen, und das Fühlen wird einbezogen in dieses horizontale Denken. Und so sind wir eingetaucht in die Welt des denkenden Geistes, und dort versuchen wir unser Glück ausserhalb der wahren Identität zu suchen, die jenseits von Vergangenheit und Zukunft existiert – in der Ewigkeit. Viele wundern sich, es da nicht zu finden. 

 

Im Innehalten in der Seele geschieht die Berührung mit Ewigkeit - und das ist die Schwierigkeit für die meisten - , dass mit diesem Anhalten und diesem Moment, wo man die Oberfläche verlässt, sehr viel hochkommt. Es kommt all das hoch, was in diesem horizontalen Denken unterdrückt worden ist, und dann bedarf es tiefen Vertrauens und des Aushaltens in der Präsenz, damit zu sein und weiterhin innezuhalten und nicht die erstbeste Möglichkeit zu nutzen und wieder mitzuspielen in diesem Film, der gedreht worden ist und immer noch gedreht wird. Sich der Ewigkeit zuzuwenden ist nicht langweilig.

 

Die Notwendigkeit für diesen Film erübrigt sich dann. Der Identifikationsfilm an der Oberfläche ist nur die Manifestation unseres Widerstandes zur Ewigkeit. 

 

Es ist ein geistiger Film, bestehend aus Ideen und Gefühlen und Bildern - zusammengehalten von der Grundbedingung – der Dunkelheit, der Affinität, sich mit dem Zeitweiligen gleichzusetzen. Unbewusstheit, Ignoranz, Nichthinsehenwollen. Es ist paradox, dass es ein Film ist, in dem man zwar mitspielt, aber gleichzeitig nicht genau sehen möchte, um was für einen Film es sich handelt. Und so nimmt der Film seinen Lauf und das Leiden nimmt ebenso seinen Lauf, die Unterdrückung nimmt ihren Lauf, das Gehetztsein nimmt seinen Lauf, die Flucht nimmt ihren Lauf. Und das ist das „Leben“, aber nicht das wirkliche Leben. 

 

Das wirkliche Leben, das Leben, was in Stille ist, das Ewigkeit durchleuchten lässt, das ein spannendes Abenteuer ist, fordert und ist nie stagnierend. 

Mein Leben: Ich war klein, bin größer geworden, und bald sterbe ich. Das ist der Geist, das falsche Leben, das begrenzte Leben, das Leiden, ein Leben in Ideen: ich und meine Welt, ich und meine Beziehungen. Ein Leben des Strebens nach Glück und Freiheiten im Rahmen der Vergänglichkeit, ein Leben des Kampfes um Befreiung. Aber das ist nicht das wirkliche Leben. Das ist die Einbildung, aber nicht Leben. Das wirkliche Leben öffnet sich erst für diejenigen, die den Mut haben, diesen Riss wahrzunehmen und dann in diesen Riss hineinzufallen.