Erwachen

Die Dringlichkeit der Spiritualität ist zu drängend, zu ernst, zu tief und ehrfurchtgebietend, um Raum für rein intellektuelle Theorien – wie bestechend sie auch sein mögen – übrig zu lassen. Es braucht den Sprung in die Erfahrung.

Wenn unser Haus in Flammen steht, suchen wir eine Fluchtmöglichkeit und sind gewiss nicht in der Stimmung, uns hinzusetzen und eine glänzende Abhandlung über Architektur zu lesen...

Wenn wir uns selbst in Raum und Zeit betrachten, ist es zu beurteilen, ob unsere unerhörte Selbstzufriedenheit und Stumpfheit dem Letztlichen gegenüber, die sich in dem Eingenommensein von Nebensächlichkeiten ausdrückt, gerechtfertigt ist. Oder: wie lange wir die Unverantwortlichkeit noch aufrechterhalten wollen.

 

Auch bevor der Mensch imstande war, ein Fernrohr zu benutzen, erfüllte ihn der Anblick des Nachthimmels mit Ehrfurcht und Staunen über die Unermesslichkeit des Universums, von dem er und seine Welt nur ein atomisch kleiner Teil darstellt. Die Übergewichtung, sein eigenes Übernehmen, ist angesichts dessen nicht mehr haltbar.

 

Die 6000 Sterne, die sich in Reichweite unserer Sehkraft befinden, bilden nach den Befunden der Wissenschaft eine Gruppe, neben der sich mindestens eine Billion anderer Gruppen in den unendlichen Raum nach allen Richtungen erstreckt.

Astronomen haben eine überschlägige Berechnung der mit Hilfe der heute verfügbaren mächtigen Teleskope wahrnehmbaren Sterne angestellt und schätzen, dass allein in unserem Milchstrassen-System mehrere hundert Billionen Sterne vorhanden sind, von denen manche kleiner sind als unsere Sonne, andere aber viel grösser. Diese Milchstrasse, die nur eine von 100'000 den Astronomen mit Sicherheit bereits bekannten ist, ist von so immenser Ausdehnung, dass das sich mit 300'000 Kilometern pro Sekunde fortbewegende Licht Hundertausende von Jahren braucht, um vom einen Ende zum anderen zu gelangen.

In diesem gigantischen „bekannten“ Universum nimmt unser Sonnensystem mit seinen Planetenumlaufbahnen einen verhältnismässig unbedeutenden Platz ein. Beschränken wir unsere Schau auf dieses, so erkennen wir, dass unsere Erde im Verhältnis zu diesen riesigen Entfernungen nur einen geringfügigen Raum einnimmt. Sie bewegt sich in 93 Millionen Kilometer Distanz langsam um die Sonne herum.

Auf dieser Erde nimmt der Mensch in seiner physischen Gestalt einen minimalen Raum ein. Eine Mikrobe, die über die Oberfläche eines grossen Schulglobus kriecht, ist in ihren physischen Ausmassen ein Gigant im Vergleich zu dem sich auf der Erdoberfläche fortbewegenden Menschen.

 

Das ist ein ehrfurchtgebietendes Bild. Doch die Täuschung der maya und die von ihr eingeflösste Selbstgefälligkeit sind so gross, dass wir nicht einmal über das Leben des Menschen rätseln und ob unseres Schicksal erzittern, sondern durch dieses Leben hindurchgehen, indem wir uns von unseren belanglosen Beschäftigungen ganz in Anspruch nehmen lassen und mitunter sogar von einem Gefühl der eigenen Wichtigkeit besessen sind.

 

Bin ich in diesem riesigen Gefüge unersetzbar? Und was ist die wesentliche Aufgabe meiner Existenz darin? 

Selbst die Forscher, die diese immense, uns relativierende Grösse in ihren Fernrohren betrachten, gehen nach ihrer Arbeit einem gewöhnlichen kleinlichen Leben nach und haben Alltagssorgen.....

 

Das Bild, das die Wissenschaft von unserer physischen Welt in ihrem unendlich kleinen Aspekt vorstellt, ist nicht weniger bestürzend.

Dass die physische Materie, aus der sich unsere Körper zusammensetzen, aus Atomen und Molekülen bestehen, ist seit langem bekannt.

Doch diese Grundbestandteile erwiesen sich bei genauerer Untersuchung als nichts anderes als verschiedene Kombinationen und Umsetzungen zweier Grundtypen positiv und negativ geladener Partikel – Protonen und Elektronen.

Die Protonen bilden den Atomkern und werden von einer veränderlichen Zahl von Elektronen in verschiedenen Umlaufbahnen mit ungeheurer Geschwindigkeit umkreist, so dass sich ein Atom wie ein Miniatur-Sonnensystem ausnimmt. Und noch bestürzender ist die Entdeckung, dass diese Elektronen nichts anderes zu sein scheinen als elektrische Ladungen ohne materielle Basis, denn Masse und Energie können bei der enormen Geschwindigkeit, in der die Elektronen ihre Bahnen durchlaufen, nicht mehr unterschieden werden.

Das bedeutet, und das bedarf viel Nachdenkens, dass die wohlbekannte sogenannte wirkliche Welt, die wir mit unseren Sinnenorganen erfassen, eine Welt der Formen, Farben, Töne usw., auf einer Phantomwelt basiert, die lediglich aus Protonen und Elektronen besteht.

 

Doch wie viele von uns fühlen sich bewogen, angesichts dieser Fakten die natürlich aufkommende Frage zu stellen: Was ist der Mensch? Was bin ich? Wohin gehöre ich? Was ist meine Aufgabe in einer solchen Arrangierung drin?

 

Die Betrachtung der Zeit gibt uns eine ähnliche Ausgangslage.

Wir treten unermesslicher Ausdehnungen anderer Art entgegen. Eine unendliche Aufeinanderfolge von Veränderungen erstreckt sich in beide Richtungen – Vergangenheit und Zukunft.

Wir wissen nicht, ob im nächsten Augenblick die Sonne explodiert und alles Leben im Sonnensystem zerstört, bevor wir erfasst haben, was geschehen ist. 

Glanzvolle Zivilisationen auf der Erde, von denen nur Spuren zurückgeblieben sind, und selbst Planeten und Sonnensysteme werden von der Flutwelle der Zeit weggeschwemmt, um nie wieder in Erscheinung zu treten. Und ein ähnliches, unerbittliches Geschick erwartet alles, vom Staubkorn bis zum Sonnensystem. „Als Zeit verschlinge ich alles“, sagt Krishna in der Bhagavad Gita. Und dennoch, wenn wir den winzigen Menschen betrachten, dessen Leistungen und Ruhmestaten ebenfalls im Nichts zu verschwinden bestimmt sind, sehen wir ihn auf der Weltbühne umherstolzieren, angetan mit Macht und Ehre für einen kurzen Augenblick von der ihm zugeteilten kleine Spanne Zeit. Dieses riesige Panorama endlosen Wandels, das sich vor seinem Blicke entrollt, müsste ihm doch Einhalt gebieten und ihm wenigstens zu denken geben, was dies alles zu bedeuten hat. Aber ist dem so?

Sind wir in ständigem Gedenken dessen? Der Mensch erregt sich über seinen angeschwärzten Toast....

 

Der erwachende Mensch bräuchte sich nur eine Zeitlang von der ihn beanspruchenden Umgebung isolieren und über diese Tatsachen des Lebens nachdenken, um die täuschende Natur seines Lebens zu erkennen und den sogenannten Lebensgenuss dahinschwinden zu sehen. Doch nur wenige unter uns haben den Blick für diese ehrfurchtgebietende Schau; und sollten sich unsere Augen zufällig dafür öffnen, würde uns der Anblick so erschrecken, dass wir sie wieder schliessen und uns achtlos und blind gegenüber dem wahren Wesen des Lebens weiterhin unseren Freuden und Leiden hingeben würden, bis der Tod diesen Lebensauftritt wieder beendet.