Ich wurde Vegetarier...

 

Ich wurde Vegetarier wegen eines weissen Kaninchens. Es hiess Lora und war der verwöhnte Liebling der Erstklässler, die meine Frau unterrichtete. An Wochenenden und in den Ferien konnte Lora jedoch nicht in der Schule bleiben. Deshalb wurde sie ein häufiger Gast in unserem Haus. Es kam soweit, dass Lora uns mehr bedeutete als den Schulkindern.

 

Lora hatte ausgeprägte Launen und Vorlieben und was so sauber wie eine Katze. Als sie sich endgültig bei uns häuslich niedergelassen hatte, lies sie frei in unserer Wohnung herum.

 

Wenn ich abends heimkam, empfing sie mich an der Tür und begrüsste mich durch lautes Klopfen mit einem Hinterfuss. Dann hoppelte sie herbei und schmiegte sich an meine Beine. Sie schlief normalerweise am Fussende unseres Bettes. Aber wir wachten oft auf und fanden sie schnarchend auf dem Kissen neben unseren Köpfen. Ausserdem entwickelte sie eine Vorliebe für Kekse und riss einem knurrend die Schachtel aus der Hand, wenn man ihr nicht schnell genug eines gab.

Lora war anhänglich, starrköpfig und manchmal verdreht. Oft rannte und hüpfte sie aus purem Übermut im ganzen Haus herum. 

 

Lora war erst zwei Jahre alt, als sie während eines Maitages in meinen Armen starb. Sie hatte einen Darmkatarrh gehabt und meine Frau und ich hatten zwei Monate um ihre Gesundung gekämpft. Da sie nicht mehr essen konnte, hatten wir sie viermal täglich mit einer vom Tierarzt verschriebenen Nährstoffpaste zwangsernährt. Flüssigkeiten bekam sie mit einem Sossenlöffel. Lora erholte sich und schien einen Monat lang die alte zu sein. Dann wurde sie wieder krank und starb rasch.

 

Am Abend nach ihrem Tod setzten wir uns betrübt zu Tisch. Ich blickte auf das Stück Fleisch, das auf meinem Teller lag, und plötzlich sagte ich zu Betty: „Ich glaube, ich kann das nicht essen.“

 

„Ich weiss, was du meinst“, sagte sie und schob auch ihren Teller zur Seite, „mir ist schon das Kochen schwergefallen.“

 

Wir assen an diesem Abend alles ausser dem Fleisch, machten am nächsten Abend Nudeln mit Käse und begannen uns zu fragen, ob man ganz ohne Fleisch auskommen könnte.

 

Keiner von uns beiden hatte zuvor ernstlich daran gedacht, Vegetarier zu werden. Wir waren mit Fleisch und Kartoffeln gross geworden. Doch die Zeit mit Lora und ihr Tod hatten etwas in uns ausgelöst. Ich neige nicht zu übermässiger Gefühlsduselei bei Tieren. Ich wusste, dass Lora „nur ein Kaninchen“ war – so wie wir „nur Menschen“ sind. Aber ich wusste auch, dass dieses zerbrechliche Geschöpf uns Freude bereitet hatte. Und es hatte uns zu tieferem Nachdenken über den Sinn und den Wert des Lebens, der Liebe und des Mitgefühls angeregt.

 

Weil Loras Leben uns so tief bewegt hatte, fanden wir es unpassend, nach ihrem Tod weiterhin Tiere zu essen. Trugen die anderen Tiere nicht die gleiche Lebendigkeit in sich, die wir an Lora so geliebt hatten? 

 

 

Aus: „Die Vegetarische Alternative“ von Viktor Sussmann