Schleier der Abstraktion

 

Der Mensch hat die Kraft zur Empathie… er fühlt mit, was andere fühlen.

Wenn ich mich direkt vor dir mit einem Messer in den Arm steche, dann tut dir dies weh.

Das Folgende Youtube Video, indem Menschen beim Picknick von einer Wasserflut überrascht werden, die sich aufgrund einer geöffneten Schleuse in einem Staudamm ergab, und darin ertrinken, lässt uns nicht kalt.

www.youtube.com/watch?v=pLSbSBprsVA

 

Der Mensch fühlt mit, wenn er erfährt, dass andere leiden. Es berührt ihn und kann ihm nicht mehr gleichgültig sein. Er nimmt Stellung.

Der russische Anarchist Kropotkin schreibt in „mutual aid – Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ (1902), dass das Empathievermögen ein wesentlicherer Bestandteil in unserer Entwicklung darstellt als der Kampf um das Dasein.

Wieso schliessen wir die Geschwister aus dem Tierreich davon aus?

Kein Genozid, keine Ausrottung und keinen Krieg hat nur annähernd so viele Opfer erzeugt, wie täglich Tiere zu unserer Ernährung ihr Leben lassen müssen.

Wieso fühlen wir dann nicht mit den Tieren, die täglich milliardenfach nur für die Ausweitung einer kleinen Gaumenfreude getötet werden?

 

Einige der schlimmsten Naziverbrecher, wie Adolf Eichmann, waren sehr liebevoll mit ihren Kindern umgegangen und im privaten Umgang zuvorkommend und nett.

Wie können empathiefähige Menschen grausame Dinge tun?

Sie benützen den Schleier der Abstraktion.

Im zweiten Weltkrieg wurden über eine Million Zivilisten bei der Bombardierung von Städten getötet. Vom Leid dieser Menschen, die am Boden verbrannten oder von umstürzenden Mauern erdrückt wurden, bekamen die Piloten in der Luft nichts mit. Es blieb für sie abstrakt. So war es auch für Adolf Eichmann, der den Abtransport der Juden in die NS-Vernichtungslager organisierte.

Zwar war Eichmann ein glühender Antisemit, der von der „völligen Ausrottung des Judentums“ überzeugt war, aber die Erfüllung seiner „mörderischen Pflicht“ fiel ihm leichter, weil er in der Regel nur mit Zahlen und Namen hantierte und die Menschen, die dahinter standen kaum zu Gesicht bekam.

Als Eichmann jedoch einmal das KZ Ausschwitz inspizierte und das reale Elend sah, für das er mitverantwortlich war, erlitt er einen Schwächeanfall. Er konnte gerade noch verhindern, sich vor versammelter Mannschaft zu übergeben und betäubte sich auf der Rückfahrt mit Unmengen Alkohol.

Dieser Schleier der Abstraktion verhindert, dass einem das Grauen bewusst wird, an dem man beteiligt ist.

Es geht hier nicht darum, menschliche und tierische Opfer gleichzusetzen oder sie gegeneinander abzuwägen, sondern nur darum, die gleichen erschreckenden Mechanismen aufzuzeigen, den Schleier der Abstraktion, welcher auch nötig ist, um überhaupt Fleisch essen zu können.

Liebe und anständige Menschen vermögen aufgrund der institutionalisierten Grausamkeit und der distanzierten Abstraktion mit sauberen Händen zu töten. Sei es aus dem Bomber-Flugzeug oder sei es durch den Konsum des säuberlich abgepackten Fleisches.

Dem Fleischesser erginge es wie dem Ausschwitz besuchenden Eichmann, wenn er den Schlachthof von innen besuchen würde. Da würde man erschaudernd erkennen, was für eine Ungeheuerlichkeit man durch das so normal und friedlich aussehende Mittagessen gerade verursacht.

Aus Tagebüchern von KZ-Wächtern, die Männer, Frauen und Kinder täglich ins Gas schickten, weiss man, dass sie anfänglich mit Mitleidsreaktionen zu kämpfen hatten, insbesondere, wenn sie neu im Lager ankamen. Mit der Zeit setzte sich dann ein Abstumpfungsprozess ein. Das Morden wurde zur Routine.

Diese helle Empörung ist uns durch abstumpfende Angewöhnung ebenfalls verloren gegangen, wenn man auf Märkten und Läden präparierte Tierleichen zum Verkauf liegen sieht.  

Die NS-Ideologie des Judenhasses hatte eine Vernebelung im Gewissen bewirkt, dass sie das offensichtliche Unrecht gar nicht als Unrecht erkennen konnten.

Wie kann es jemandem legitim erscheinen, wehrlose Menschen umzubringen und sich dabei noch als gerechter Mensch fühlen?

Indem man den in den Opfern keine Menschen mehr sieht, sondern sie entpersönlicht. Diese tödliche Differenz brachte man im „Dritten Reich“ schon den Kleinsten bei, wie das Stürmer-Kinderbuch „Der Giftpilz“ zeigt: Es erzählt von einer Mutter, die mit ihrem Sohn, dem kleinen Franz, Pilze sammelt. Sie erklärt ihm, warum man die guten Champignons auf keinen Fall mit den giftigen Knollenblätterpilzen verwechseln darf, obwohl dies ja optische Ähnlichkeiten haben.

Das Kind begreift schnell: Das ist so wie bei den Juden, die auf den ersten Blick auch wie gute Menschen aussehen, aber in Wahrheit hochgiftig sind und den „Guten“ nur Unheil bringen.

Die Mutter, stolz über die Auffassungsgabe ihres Kleinen, bestätigt: „Wie ein einziger Giftpilz eine ganze Familie töten kann, so kann ein einziger Jude ein ganzes Dorf, eine ganze Stadt, ja sogar ein ganzes Volk vernichten.“

Wer mit solchen Geschichten aufwächst, der wird gemarterten jüdischen Menschen kaum mehr mit Mitleid begegnen, sondern ihrem Leiden mit Gleichgültigkeit begegnen.

Mit der Infiltration eines solchen Weltbildes verschwindet ein Unrechtsbewusstsein.

Dann fallen Hemmschwellen und man tut Dinge, die das innerste Gewissen einem eigentlich verbieten würde.

 

Das erzeugt die Doppelmoral. Wir verhalten uns gegenüber Mitgliedern der guten Gruppe völlig anders als gegenüber Mitglieder einer Gruppe, der man das Üble anheftet.

So gehen Nächstenliebe und Fremdenhass Hand in Hand.

 

Eine Gewissensvernebelung geschah in unserem Umgang mit Tieren. Man wurde als Kind schon angewöhnt, dass es normal und legitim sei, den Körper eines Tieres zu essen. Die Ausblendung des Unrechtbewusstseins fällt zudem noch leichter, wenn es sich um eine andere Spezies handelt.

Tiere sind entweder geliebte Haus- und Kuscheltiere oder tauchen unter in einer anonymen Masse, die wir dann töten lassen und auf dem Teller verspeisen.

Diese Irrationalität im Umgang mit Tieren bedeutet, dass man einige Tiere vermenschlicht und zur Kompensation mangelnder sozialer Beziehungen werden lässt und auf der anderen Seite Tiere zwecks Gaumenfreude instrumentalisiert und entpersönlicht und sie aus dem Rechtsempfinden ausschliesst.

So gehen Lieb-Menschentum und Fleisch essen Hand in Hand…

 

Sind solche Gedanken zu extrem? Der belgische Literaturnobelpreisträger Maurice Maeterlinck schreibt:

 “Zur Zeit der spanischen Inquisition war die Meinung, man solle nicht allzuviele Ketzer verbrennen, ganz sicher Ausdruck gesunden Menschenverstandes und angemessener Mäßigung. Extreme und unvernünftige Stimmen verlangten damals, man dürfe gar keine verbrennen.”