Überlebenswunsch
Wenn das Lebewesen seine eigene wesensgemässe Position als ewige Seele vergisst und sich beginnt mit Dingen zu identifizieren, die nicht es selber sind, erscheinen Ängste.
Die ewige Seele beginnt sich mit Zeitweiligem gleichzusetzen, welche es, ihrem Naturel gemäss, ewig erhalten will, was zu einem endlosen und sinnlosen Bemühen führt.
"Wenn sich das Lebewesen fälschlicherweise mit den materiellen Körpern, in denen es sich jeweils befindet, identifiziert, vertieft es sich völlig in die äussere Energie des Herrn, und verliert dadurch den Überblick für das Ganze, und wird in ihrer Perspektive beschnitten.
Durch diese Selbstvergessenheit erkennt die Seele nicht mehr ihre eigentliche und wesensgemässe Beziehung zu Gott, vergisst ihren Bezug zu ihm und sucht den Bezug in der peripheren Welt und beginnt, Angst zu haben." (SB 11.2.37)
Im Yogs-Sutra von Patanjali wird der Überlebenswunsch (abhinivesa) als ein Grundleiden beschrieben, welches die klare Wahrnehmung verzerrt (PYS 1.8).
Abhinivesa ist die Absorbation in das Zeitweilige, Anhaftung am Leben, die sich dann auch als Todesfurcht manifestiert.
Es ist der Wunsch der Seele nach Kontinuität, der sich auf das Zeitweilige übertragen hat und nun in der Verzerrung der Welt die Ewigkeit reproduzieren möchte.
Jedes Geschöpf hat den Willen zu leben und will an dem Leben hier Festhalten. Und das ist ein existenzielles Grundleiden, da der Widerstand zum Fluss des Vergehens zur Verklebung mit der Oberflächen-Welt führt.
Was treibt jedes Lebewesen an, konstant sich gegen das Sterben zu wehren? Einerseits sicher eine schlummernde Urerinnerung an die Unvergänglichkeit der Seele, aber auch eine Erinnerung an die leidvolle Erfahrung des Sterbens, die man in der Vergangenheit erlebt hatte. Wären wir in der Vergangenheit noch nie gestorben, wäre dieser Impuls, nicht sterben zu wollen, nicht vorhanden.
Das Hängen am Leben kann nicht durch philosophisches Nachdenken beseitigt werden, denn erst muss die Avidya, den Deckmantel, der unsere Beziehung zu Gott latent werden lässt, gelichtet werden. Und dies geschieht durch die Selbsthingabe zu Gott, dem Übergeben und sich selber ihm Anzuvertrauen.
Diese Sehnsucht nach Gottesdienst, als reine Seele einen Austausch mit Krishna zu erfahren, kann so stark werden, dass das Abinivesha gänzlich gelöst wird.
In der Isopanisad (17) findet sich das folgende Gebet, das nicht dem Lebensüberdruss, sondern eben dem brennenden Wunsch nach Wirklichkeit entspringt.
„O mein Herr, möge dieser vergängliche Körper zu Asche verbrennen, und mögen die Elemente dieses Körpers mit der Totalität der Elemente verschmelzen.
Ich bitte dich, mein Herr, erinnere dich an all das, was ich für dich getan habe.“
Wenn ein Mensch frei ist vom Tod, von der Vergänglichkeit, vom Wunsch, überhaupt zu überleben (abhinivesha), dann ist ein Zustand inneren Friedens erreicht, der bleibt und unberührt ist von den Beschwerlichkeiten des äusseren Lebens.
Der grösste Fehler des Lebens besteht darin, dass man täglich einen Teil des Sterbens auf später verschiebt. Wer Tag für Tag in dieser inneren Bereitschaft für das
Ende lebt, ist nicht abhängig von der Zeit. Denn wäre man dies, entstünde ein Bedarf und eine Gier für zukünftige Zeit. Dies ist eine Einladung zum Leiden.
Wem die Gegenwart keine Erfüllung gibt, fühlt sich umso mehr von der Zukunft abhängig und es schleicht sich ihm die Gier nach Leben und die erbärmliche Furcht vor dem Tod ein. So wird alles
elend.
Wenn man die Gier nach dem Leben abschüttelt und lernt, dass es gleichgültig ist, ob man lebt oder stirbt, bei dem fällt die Bedeutungszuschreibung, die man einem langen Leben gibt, vollkommen
weg und Freiheit ist die Erfahrung.
Gleite in dem Wasser, das dich fortschwemmen will. Das schenkt einen die Freiheit, welche im Kampf der Fixierung von Lebensumständen abhanden gekommen ist. Dem Tod darf man sich
anvertrauen.
Weil vom Menschen die ihm innewohnende unsterbliche, unberührbare Natur nicht erkannt wird, entsteht das fünfte Grundleiden, abhinivesha (Absorption in Zeitweiligkeit). Dies ist ein übergestülptes Kleid aus Vergänglichkeit, welche einen glauben lässt, das Schicksal der Hülle sei sein eigenes – und Angst vor dem Tod wird geboren.