an eine Sterbende


Lange habe ich geglaubt, dass der Tod das Gegenteil, die Auslöschung und Widerlegung des Lebens sei. In meinem Reifeprozess bin ich dahingelangt, ihn zur Mitte meines Lebens zu machen, als ob wir in ihm existenzieller geborgen und aufgehoben wären als in der tiefsten Vertraulichkeit.
Der Tod ist nicht das Überlebenshindernis, denn seine innerste Wesenheit ist uns nicht konträr, sondern ist lebenswissender als wir in den vitalsten Momenten sind.
In uns brennt die Dringlichkeit, in eine tiefere Schicht einzudringen als sich nur mit Alltäglichkeiten zu befassen und sich im Trivialen zu verlieren. Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist Einladung dazu, fruchtbar emporzuwachsen.

Einige Menschen verstehen unter dem Tode das Ende, der Zustand des Zerfalls und völligen Abbaus alles Lebendigen. Er sei das Gegenteil von Leben. Die bewusste Auseinandersetzung mit ihm lässt einen aber erleben, dass Sterben und aus dem Leben heraustreten nur ein intensiverer Grad des Lebendigseins ist.
Da wir voreingenommen sind – alles in uns ist gegen den Tod eingestellt – haben wir ein diffuses und entstelltes Verhältnis mit ihm.
Der Tod aber ist unser Freund – einer der wenigen, der durch unsere Lebensschwankungen niemals beirrbar ist. Wenn man ihn als solchen erkennt und nicht in die sinnlose und anstrengende Bemühung tritt, ihn aus dem Leben zu evakuieren versuchen, dann erst wird man das Hiersein, all unser Wirken, die gesamte Welt und die Begegnungen in ihr ganz fundamental wertvoll und lebendig erleben. Der Tod ist der eigentliche Ja-Sager – er bejaht unsere in uns angelegte Affinität zur Ewigkeit und durchtrennt unsere vermeintliche Verbindung zum Schein.

Wenn uns etwas fortgenommen wird, womit wir in tiefer Verbundenheit zusammenhängen, so hat man das Gefühl, viel von einem selber sei weggegangen. Das ist ein Anzeichen dafür, im falschen Identitätsgefühl zu leben… In unserer wirklichen Identität kann für alle Ewigkeit nichts abhanden kommen.
Der Tod fordert uns auf, reicher zu werden und uns dem Unverlierbaren zuzuwenden. Die Religionen geben ihren Gläubigen simple Vertröstungen und Beschönigungen des Todes statt ihnen Mittel zu geben, sich mit ihm zu vertragen und zu verständigen. Ihn mit seiner unmaskierten Grausamkeit in der Stille annehmen, bis man darin eine klare Milde wahrnimmt. Aller Trost ist trübe.
Einweihung ist ein Schlüssel, das Wort „Tod“ ohne jegliche Negation zu verstehen.
Blüht ein Baum, so blüht genauso der Tod in ihm wie das Leben. Überall um uns herum ist der Tod zuhause und aus den Ritzen aller Dinge schaut er zu uns. Die Vergänglichkeit ist sein Gesicht.
Man braucht nicht zu fürchten, dass unsere Kraft nicht hinreicht, sei es auch die schrecklichste, Todeserfahrung zu ertragen. Wir sind doch schon ein Leben lang im Sterben geübt worden und die Tragik in ihm existiert wirklich nur, wenn man aus der innerweltlichen Verhaftungsperspektive schaut. Sonst erfährt man in ihm eine ähnliche Lieblichkeit wie im ersten Verlieben.
Die Bhagavad Gita lehrt, das Leben ohne Rechnen und Auswählen ohne innerweltliche Präferenzen zu lieben. Dies zu tun wird einfach, wenn man den Tod immer schon miteinbezieht.
Früher wusste man und ahnte man, dass man den Tod in sich hatte, wie die Frucht den Kern. Und dies gab einen eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz. Nur weil wir den Tod ausschliessen, ist er mehr und mehr zum Fremden geworden, und zu etwas Feindlichem.
Das gewährt die Philosophie: Im Anblick des Todes heiter zu sein, tapfer und unverzagt, in jedem beliebigen Zustand des Körpers, auch wenn er versagt. Denn für die Seele gibt es weder Geburt noch Tod.
Der wache Mensch sieht mit einer Gesinnung und Miene der absoluten Sorglosigkeit und innerer Gelassenheit seinem Ende entgegen, da er erkennt, dass nur die Aggregat - Zustände der materiellen Energie sich ändern und das Wirkliche unberührt bleibt.


„Allem, was geboren wurde, ist der Tod gewiss, und ebenso sicher ist das Wiedergeborenwerden desjenigen, was gestorben ist. Darum solltest du über Unvermeidliches nicht klagen, nicht betrübt sein über unausweichliche Bestimmung.“ Bhagavad gita 2.27
Es ist eine Kunst, die man während des Lebens zu lernen hat: Mit Gleichmut zu scheiden, wenn jene unvermeidbare Stunde naht.
Wer nicht sterben will, hat eigentlich auch nicht leben wollen. Das Leben ist uns mit der Aussicht auf den Tod gegeben worden. Auf diesen geht man während des gesamten Lebens hinzu. Ihn zu fürchten ist daher ein Anzeichen eines Toren. Auf Gewisses wartet man – nur vor Ungewissem hat man Furcht.
Der Tod besitzt eine unparteiische und unbezwingliche Notwendigkeit. Wer könnte sich darüber beklagen, sich in einer Lage zu befinden, in der sich jeder befindet. Doch ist es überflüssig, sich mit dem Gang der Natur anzulegen. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Wellen zu glätten. Der Versuch, sich gegen einen natürlichen Ablauf zu stellen ist die grösste Verschwendung menschlichern Bewusstseins. Alles, was entstand, verschwindet wieder. Warum soll man nun, wenn es kurz auf der Bühne auftaucht, es festhalten wollen und dann klagen, wenn es wieder entschwindet? Alles, was die Natur zusammengefügt hat, löst sie auch wieder auf.
Wenn man sich vor dem Tode fürchtet, dann immer – denn welche Zeit ist dem Tode entzogen?
Wir planen lange Schiffsreisen und nehmen uns vor, grosse Landabschnitte zu durchstreifen, verlieben uns, gründen Familien und richten uns ein in Arrangierungen, die unserem Erhalt dienlich sind. In alle dem, steht uns der Tod immer zur Seite. Da man an ihn aber nie anders denkt, als einen uns nicht persönlich treffenden Tod, drängen sich uns Beispiele menschlicher Vergänglichkeit immer nur so lange auf, als wir über diese kurz staunen. Was gibt es aber Törichteres, sich darüber zu wundern, was an einem bestimmten Tag eingetroffen ist, was eigentlich an jedem Tag geschehen kann.
Das Ende steht für uns zwar fest, aber niemand weiss, wie nahe er sich schon an diesem Zeitpunkt befindet. Deshalb bringt man sich in die geistige Verfassung, als wäre nun der letzte Tag gekommen. Man macht täglich die Abrechnung mit dem Leben ist in jedem Moment bereit, alles zurück zu lassen, abzuschliessen, weiterzuziehen.
Der grösste Fehler des Lebens besteht darin, dass es immer unvollkommen ist, dass man täglich einen Teil davon auf später verschiebt. Wer Tag für Tag in dieser inneren Bereitschaft für das Ende lebt, ist nicht abhängig von der Zeit. Denn sonst entsteht der Bedarf nach und die Gier für zukünftige Zeit. Dies ist eine Einladung zum Leiden. (Patanjali bezeichnet im Yoga-Sutra abhinivesha als eines der Kleshas).
Wem die Gegenwart keine Erfüllung gibt, fühlt sich umso mehr von der Zukunft abhängig und es schleicht sich ihm die Gier nach Leben und die erbärmliche Furcht vor dem Tod ein. So wird alles elend.
Wenn man die Gier nach dem Leben abschüttelt und lernt, dass es gleichgültig ist, ob man lebt oder stirbt, bei dem fällt die Bedeutungszuschreibung, die man einem langen Leben gibt, vollkommen weg und Freiheit ist die Erfahrung.
Gleite in dem Wasser, das dich fortschwemmen will. Das schenkt einen die Freiheit, welche

im Kampf dagegen abhanden gekommen ist. Dem Tod darf man sich anvertrauen.