Aus der Herde heraustreten - Eine Reflektion zu Bhagavad Gita 13.11
Man saugt Identität aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl. Das ist Herdenbewusstsein.
Die Herde vermag einen nicht zu helfen, das Selbst zu erkennen. Die Herde ist beschäftigt mit Fressen, wird morgens auf die Wiese getrieben, verbringt den Tag mit dem Überleben, hat abends ein wenig Freizeitvergnügen, also Auslauf, und geht nachts wieder schlafen im Stall. Sie kann nie behilflich sein in der Frage nach Identität und Bestimmung, nach dem „weshalb“ und „wohin“ – den wesentlichen Fragestellungen des Menschseins.
Es nützt auch nichts, mit der Herde zu grasen und sich mit saffran Punkten anzumalen, um ein besonderes Schaf zu sein. Es mag sein, dass man dann das Gefühl hat, dass die anderen Schafe einen mehr Aufmerksamkeit schenken, weil man ein besonderes Schaf ist. Aber von den Schafen geliebt zu werden ist nicht das, was einen die Freiheit des Herzens vermittelt, nicht die Sehnsucht erfüllen kann.
Die Herde zu verlassen bedeutet nicht, zu vereinsamen. Es ist auch nicht nötig, gegen die Herde zu kämpfen und gegen die Herde zu rebellieren. Rebellen sind auch Schafe – die zwar anders angemalt sind und glauben, die Herde nicht nötig zu haben und etwas anderes zu sein als ein Schaf. Die Herde zu verlassen bedeutet auch nicht, sich über die Herde zu stellen.
Warum also wählt man immer wieder die lärmende, einnehmende Herde, die einen scheinbar zwingt, Dinge zu tun, die nicht dem innersten Herzen entsprechen, die einen scheinbar Verhaltensformen, Denkweisen auferlegt, die man gar nicht will, die einem nicht wirklich entsprechen, an denen man leidet. Nun, man ist schon lange in der Herde. Es ist die alte Gewohnheit und diese Gewohnheit ist so mächtig, dass Generationen und Billionen von Menschen immer das Gleiche getan haben. In diesem mächtigen Feld der Gewohnheit von Generationen und Generationen bewegt man sich. Und es hat in der Vergangenheit nur sehr wenige Menschen gegeben, die bereit waren, sich gegen diese Gewohnheit zu stellen und dafür in Kauf zu nehmen, abgelehnt zu werden, ausgestossen zu werden aus der Herde. Zu verstossen gegen die kollektiv angenommene Ausflucht – das Herdenbewusstsein – ist ein Sakrileg.
Die Lebenskraft, die man eigentlich bräuchte, um zu erforschen, was wirklich ist (athato brahma jijnasa), wird von den meisten Menschen für etwas anderes verwendet und verschwendet. Sie versickert im Herdentrieb, im Selbsterhaltungstrieb und im Paarungstrieb. Deshalb steht sie für das Wesentliche nicht mehr zur Verfügung.
Vollkommene Erkenntnis erfordert alles, was einem zur Verfügung steht. Die gesamte Bewusstseinskapazität, das Wahrnehmungsvermögen und die gesamte Lebenskraft (shakti). Wenn nun die Lebenskraft vorzugsweise aufgewendet und aufgesaugt wird von der Selbsterhaltung – der Angst, geistig, emotional oder körperlich nicht mehr zu überleben – und sich der Herde anzupassen oder gegen die Herde zu rebellieren, oder wenn diese Lebenskraft aufgebraucht wird, die Bindung zu einem Partner zu suchen, dann steht sie nicht mehr für die tiefste Herzensangelegenheit zur Verfügung. Für den Ruf Krishnas an die Seele.
Das ist, was den meisten Menschen widerfährt. Sie sind zu schwach für die Erkenntnis, zu schwach, sich der Wahrheit zu stellen, die alles von einem fordert, zu schwach, die Konsequenzen anzunehmen. Man fühlt sich auch in der Herde der Spiritualisten so sicher, dass man sich nicht getraut, sich von pseudoreligiöser Folklore, Kostümen, Ritualen und sonstigem Aberglauben sich zu frei machen zu dürfen, um wirklich den inneren Weg der wahren Hingabe in allen Konsequenzen zu leben.
Wie könnte es sein, dass die Wahrheit weniger als alles von einem fordern könnte?