Bolo Bolo - aus einem anarchistischen Grundlagenwerk

„Und wieder sitze ich im Bus. Es ist morgens um sieben Uhr dreissig, Linie 32. Es ist regnerisch und kalt, bald wird es wieder schneien. Die Nässe durchdringt Schuhe und Hosen. Wie gelähmt sitze ich da und sehe die gefassten, ruhigen Gesichter. Eine junge Frau unterdrückt ein Gähnen, verzieht ihre Mundwinkel. „Nordstrasse“, brummt der Chauffeur. Wieder überfällt mich dieses Gefühl der Fremdheit. Ungläubig starre ich durch das Fenster. „Wozu das Ganze?“ „Warum mache ich das noch mit?“ „Wie lange noch?“ Eine Maschine hat mich im Griff. Ekel staut sich in meiner Brust. Es geht unaufhaltsam dem Arbeitsplatz entgegen. Der Aufschub ist kurz, die Zeit zerrinnt von Station zu Station. Gewaltsam wurde ich aus dem Schlaf entrissen, widerstandslos verschlingt mich die Alltagsmaschine.

 

Meine Haltestelle kommt, doch ich kann nicht aufstehen. Ich bleibe sitzen bis zur Endstation. Aber der Bus hält nicht mehr. Er fährt weiter: durch Österreich, Jugoslawien, die Türkei, Syrien, Persien…nach Indien. Unterwegs verwandelt sich der Bus: Er wird umgebaut, farbig bemalt, mit Betten versehen, repariert, dem wechselnden Klima angepasst. Die etwa zwanzig Passagiere werden zu einer engen Lebensgemeinschaft. Sie suchen unterwegs Jobs, um den Treibstoff, die Ersatzteile und die Lebensmittel kaufen zu können. Alle arbeiten werden geteilt. Sie erzählen sich ihre Geschichten. Das andere Gesicht des Alltags kommt bei allen zum Vorschein: Leistungsverweigerung, Sabotage, Indiskretionen, Krank-Feiern, solidarische Aktionen, Racheakte gegen Chefs, nächtliche Anschläge. Alle haben auf ihre Art irgendwann Widerstand geleistet und versucht, die Maschine aufzuhalten. Vergeblich. Fünf Jahre später kehrt der Bus zurück. Er ist von Auf- und Anbauten überkrustet, trägt Inschriften in unbekannten Alphabeten, hat bunte Vorhänge. Niemand erkennt ihn wieder, und die Rückkehrer sind Fremde geworden.

 

Haltestelle. Aussteigen. Der Traum ist zu Ende. Wochenenden, Ferien, Illusionen und Fluchtphantasien gehen immer wieder zu Ende, und wir sitzen wieder im Bus oder in der Strassenbahn, im Auto oder in der U-Bahn. Die Alltagsmaschine triumphiert über uns. Wir sind ein Teil von ihr. Sie zerstückelt unsere Energien in Zeitfragmente, kanalisiert unsere Energien, zermalmt unsere Wunschträume. Wir sind nur noch gefügige, pünktliche, disziplinierte Zahnrädchen in ihrem Getriebe. Und die Maschine selbst treibt dem Abgrund entgegen. Auf was haben wir uns da eingelassen?“

 

So beginnt das Kultbuch des Anarchismus, „Bolo bolo“, das einen Ansatz einer neuen Gesellschaft visioniert. Es ist doch wertvoller, auf eine Utopie zuzugehen, als in einer Illusion weiterzuleben.

 

Wer hat nicht schon einmal das Gefühl in sich getragen, auszubrechen, das Neue zu wagen, auch wenn es verrückt scheint?

Es gibt natürlich viele Gründe, alles beim Alten zu belassen, aber die Würde zum innersten Selbst will sich nicht zufrieden geben mit dem Bequemen, mit dem Zustand, wie er halt immer schon war.

 

Gemäss dem Gesetz der Trägheit will alles so bleiben, wie es ist. Wir auch! Das Wagnis, aus sich herauszutreten, "uns" hinter uns zu lassen, und uns voller Vertrauen dem ganz Frischen und Neuen zu überantworten, letztlich Gott, damit er mit uns tue, wie es ihm gefällt - dies erscheint dem bedingten "Ich" geradezu unmöglich. Wir wehren uns gegen eine solche Zumutung (da eilt uns die Stimme der Angst zu "Hilfe") und tun alles, um ihr auszuweichen. Lieber gewöhnen wir uns daran, einen Splitter im Finger zu haben, als uns dem Schmerz der Operation zu stellen.

 

Es ist nicht, dass wir es nicht wagen, weil es schwierig sein könnte, sondern weil wir nicht wagen, ist es schwierig.