Die Fähigkeit zu warten

Selbst so etwas Alltägliches wie das Warten kann zu einer spirituellen Haltung werden. Das deutsche Wort „warten“ meint eigentlich, auf der „Warte“ wohnen. „Warte“ ist der Ort der Ausschau, der Wachtturm. Warten meint also: Ausschau halten, ob jemand kommt – letztlich aber Krishna erwarten.

Warten kann aber auch heissen: auf etwas Acht haben, etwas pflegen, so wie ein „Wärter“.

 

Warten bewirkt beides in uns: Die Weite des Blickes und die Achtsamkeit auf den Augenblick., auf das, was wir gerade erleben, die Feinfühligkeit, dass die Begegnung Krishnas nichts Fernes ist. 

 

Warten macht das Herz weit. Wenn ich warte, spüre ich, dass ich mir selbst nicht genug bin. Jeder kennt das, wenn er auf eine einem geliebte Person wartet. Man blickt jede Minute auf die Uhr, da jeder Augenblick der Moment des Kommens sein könnte.

 

Vritrasura drückt dieses Warten so aus:

 

"O lotosäugiger Herr, so wie junge Vögel, denen noch keine Flügel gewachsen sind, stets nach ihrer Mutter Ausschau halten, die zurückkehrt und sie füttert; so wie kleine Kälber, die mit Stricken gefesselt sind, sehnsüchtig die Zeit des Melkens erwarten, zu der ihnen erlaubt wird, die Milch ihrer Mutter zu trinken, und so wie eine bekümmerte Frau, deren Ehemann unterwegs ist, sich immer danach sehnt, dass er zurückkehrt und ihr in jeder Hinsicht Freude bereiten wird, so warte ich immer nach der Gelegenheit, Dir direkten Dienst darbringen zu dürfen." (SB 6.11.26)

 

Warten erzeugt in uns eine Spannung, da wir die eigene Unvollständigkeit sehr existentiell erleben. Im Warten strecken wir uns aus nach dem, der unser Herz berührt, der es höher schlagen lässt, der unsere Sehnsucht zu erfüllen vermag. 

 

Das Warten haben viele verlernt. Man isst Nahrung ohne zu warten, bis sie dargebracht wurde, Ungeduld beim Anstehen und Unvermögen zu ruhen...

Wer nicht warten kann, entwickelt kein starkes Ich, da er jedes Bedürfnis sofort befriedigt haben muss. Aber genau in dem wird er abhängig von den Bedürfnissen. Warten macht innerlich frei.

 

Krishna erklärt in der Gita, dass das, was nach sofortiger Erledigung schreit, nur Leid schenkt. 

 

"Das, was am Anfang wie Gift sein kann, doch am Ende wie Nektar ist und einen zur Selbsterkenntnis erweckt, gilt als Glück in der Erscheinungsweise der Tugend."

"Jenes Glück, das aus dem Kontakt der Sinne mit ihren Objekten entsteht und das am Anfang wie Nektar erscheint, doch am Ende wie Gift ist, gilt als Glück in der Erscheinungsweise der Leidenschaft." BG 18.37+38)

Der Drang nach sofortiger Befriedigung bringt immer Leid. Er hat aber die einzigartige Eigenschaft, dass man denkt, er offerierte einem sofortiges Glück. Sobald der Langzeiteffekt kommt, verdampft das erhoffte Glück. Und wie das noch nicht schlimm genug wäre, Leid folgt. Zuerst bin ich frustriert und dann noch zornig. Maya ist aber so genial, dass man die Handlung gar nie mit ihren bitteren Früchten in Verbindung bringt und so einfach weiterleidet.

Die Eigenschaft des Wartens, das heisst des nicht imminenten Reagieren-müssens auf Umstände, erlaubt einen erst eine Analyse der Umstände.

Im Warten erzeugt man einen Abstand  zwischen Reiz und Aktion. Dieser ermöglicht einem Zeit für Gedanken, Zeit an das zu denken, was einem auf lange Sicht zufrieden stellt. 

Dieses Warten weitet das Herz und enthebt das Leben aus der Banalität.

Wenn man auf das Geheimnisvolle wartet, erkennt man: man ist mehr als das, was man sich selber beschaffen und besorgen kann. Warten zeigt, dass das Eigentliche einem geschenkt werden muss. Es erzeugt im Menschen eine gesunde Spannung – denn wer wartet, schlägt nicht einfach seine Zeit vor Langeweile tot, sondern ist auf ein Ziel hin ausgerichtet.

Wer nicht warten kann, der wird nie ein starkes Ich entwickeln. Er wird jedes Bedürfnis sofort befriedigen müssen. Aber dann wird er völlig abhängig vom Bedürfnis. Warten macht einen innerlich frei. Die Spannung des Wartens auszuhalten, weitet das Herz. Und es schenkt einem das Gefühl, dass das Leben nicht so banal verläuft. Man ist nämlich mehr als das, was man sich selber geben kann. 

Warten zeigt auf, dass einem das Eigentliche geschenkt werden muss.