Sehnsucht

Das deutsche Wort „Sehnsucht“ ist kaum in andere Sprachen zu übersetzen. Und auch das griechische Wort, das der Sehnsucht zugrunde liegt, hat nicht die Bedeutungsfülle, die der Begriff in der deutschen Sprache angenommen hat. 

Das griechische Wort epithymia meint eigentlich Verlangen. Es kommt aus dem thymos, aus dem emotionalen Bereich. Thymos heisst ursprünglich Duft, Luft, das Bewegende, die Lebenskraft. Ursprünglich meint das griechische Wort also eine Erregung, ein heftiges Verlangen, das mit der ganzen Vitalität des Menschen gefüllt ist. 

 

In der griechischen Philosophie wird das Wort oft abgewertet als Begehren des Fleisches, das dem Geist widerspricht.

 

Das lateinische Wort „desiderium“ meint ursprünglich „Verlangen, Begehren“. Es hat offensichtlich mit sidus, „Gestirn“ zu tun. Es ist das Feuer der Sehnsucht nach etwas, das man nicht hat. Die Sterne kann man nur sehen, aber nicht greifen. 

 

Das deutsche Wort „Sehnsucht“ sagt uns in seinen Bestandteilen noch etwas anderes: Es ist zusammengesetzt aus den zwei Teilen „Sehne“ und „Sucht“. Das erinnert an die Sehne, die gespannt ist, wenn der Mensch zum Sprung ansetzt, oder an die Bogensehne, bevor der Pfeil abgeschossen wird. Sehnsucht hat also mit einem inneren Gespanntsein zu tun. Mit seiner ganzen Energie wartet der Mensch auf den Sprung, um das zu greifen, worauf seine Sehnsucht zielt.

Der Duden sagt, dass das Wort „sich sehnen“ nur im deutschen Sprachgebiet gebraucht werde. Er verbindet es mit dem mittelhochdeutschen Wort „senen = liebend verlangen. Es klingt das Schmerzliche mit und erinnert an eine Liebe, die noch nicht erfüllt ist. 

 

Das Wort „Sucht“ kommt nicht von „suchen“, sondern von „siech sein, krank sein“. Sucht meint also ein krankhaftes Verlangen, eine Abhängigkeit. Sehnsucht ist aber keine Abhängigkeit von einem Stoff wie Alkohol oder Drogen, auch nicht von Geltung und Ruhm. Die Sehnsucht zielt auf Heimat, Geborgenheit, Glück, Liebe, Schönheit, Erfüllung. Sie zielt auf die Vollendung. 

Die Sehnsucht hält uns nicht fest. Sie weitet unser Herz und lässt uns frei atmen. Sie verleiht dem Leben seine menschliche Würde. 

 

Sehnsucht treibt immer zum Unbegrenzten. Wenn Sehnsüchte unbewusst sind, ist man leicht manipulierbar. Freiheit bedarf der Beschäftigung mit der Frage, was die tiefste Sehnsucht ist, und wie sie erfüllt werden kann.

Infantilismus ist das Verständnis, die Welt und die Gesellschaft als Objekt zur Erfüllung eigener Wünsche und Vorstellungen zu betrachten. Die Sehnsucht nach dem Schlaraffenland ist nicht erwachsen, denn diejenige des reifen Menschen überschreitet diese Welt und zielt auf Wirklichkeit.

Sehnsucht ist nicht der Feind der Erfüllung. Sie stirbt nicht einmal an der Schwelle der Erfüllung, da sie hier nicht das findet, was sie wesentlich sucht. Sie entbindet einem von den kleinen Zielen, die nichts mit dem Selbst zu tun haben und weist einen ständig auf die wirkliche Heimat hin. Sie greift über die Enge der Welt hinaus. 

Die infantile Sehnsucht will der Realität ausweichen anstatt sie aktiv zu gestalten.

Sehnsucht wird manchmal verstanden als das Weglaufen von den Aufgaben im Jetzt und sich in die Wunschwelt der Irrealität zu projizieren. Die Sehnsucht nach Weltjenseitigem ist aber versöhnend mit der oft so banalen Wirklichkeit des Lebens, ohne sie ideologisch zu verbrämen oder idealisiert darstellen zu müssen. Sie entbindet von der Fixierung aufs Vordergründige.

 

Sehnsucht ist der Anfang aller Wandlung. Und dies ist etwas anderes als Veränderung, die für Macher, Planer und Aktivisten ist. Wandlung wird nicht gemacht – sie geschieht. Sie will nicht die Dinge in den Griff bekommen, Fehlerhaftes abstellen und mit Gewalt vermeiden. Sie arbeitet nicht mit Getöse, sondern bedächtig und leise. Denn was wächst, macht keinen Lärm.

Im gelassenen Akzeptieren, was wirklich ist ohne Verdrängung kann das Wunder geschehen. Nicht wir vollbringen dieses, sondern Krishna an uns. Wir brauchen nur der Spur unserer Sehnsucht folgen, die uns zu ihm hinzieht, und uns ihm ergeben. 

 

Nur für ein tränenloses Auge ist der umfassende Lebenssinn immer sicht -und feststellbar. Religiöses Bedürfnis entsteht immer wieder am Mangel, am Fehlen von Vergewisserung. Zweifel und die latente Ungewissheit begleiten die religiöse Erfahrung. Und dieser Schmerz kann nur im den Preis der Religiosität vermieden werden.

 

In der Religion bindet man sich an Gott. Doch dieser ist nicht etwas Beschränktes wie Gesetz oder moralische Verpflichtung. Er übersteigt immer alles Denken und Verstehen. Und so bindet man sich an etwas, was man nicht zu fassen vermag, was über eigenes Erkennen hinausführt in eine Welt jenseits des Sichtbaren und Begreifbaren.

Die Mangelerfahrung ist darin immer Grundmotivation: den der Mensch erfährt sich als mangelhaft; er kann nicht über sich selber verfügen.

Für viele Menschen stellt es eine narzisstische Kränkung, von einem anderen abhängig zu sein, den sie nicht manipulieren und über den sie nicht verfügen können.

Doch erst im Eingestehen dieses grundlegenden Mangels leuchtet die Erkenntnis auf, was die Spiritualität wesentlich will. Sehnsucht wird freigelegt.

 

Unser Verlangen ist eine Grundempfindlichkeit. Es weist über das Alltägliche und Banale hinaus und zielt auf Heimat und Geborgenheit. Das ist weder ungesund noch ein Ausdruck von Unreife und Regression. Es zeigt vielmehr, dass man erst dann effektiv leben kann, wenn man wahrnimmt, dass Krishna als das Geheimnis der Liebe in einem wohnt.

 

Wenn man mit dieser Sehnsucht bewusst in Kontakt kommt, ermöglicht dies einem eine vorurteilslose Offenheit anderen gegenüber. So kann man Begegnung und Beziehung leben, ohne ständig das menschliche gegenüber mit göttlicher Sehnsucht zu überfordern. 

 

Sehnsucht hat die Kraft, beton zu sprengen, den Panzer zu knacken, den wir um uns selbst aufgebaut haben, um unempfindlich zu sein gegenüber der Welt.

Sehnsucht öffnet die selbtkreierte Enge und hält den Horizont über einem offen. Sie verschliesst sich nicht den erschreckenden Tatsachen des Lebens, sondern setzt einen auf die Spur der Hoffnung, die und der Realität ins Auge sehen lässt, ohne daran zu verzweifeln. 

 

 

Enttäuschungen erlebt unausweichlich jeder einmal. Und jeder kennt das Gefühl, wenn ein Wunsch unerfüllt bleibt, wenn eine Hoffnung sich als Seifenblase entpuppt. Am Ende kann die realistische Einsicht stehen: Es ist nicht schlimm, wenn Sehnsüchte hier nicht in Erfüllung gehen. Sie zielen ja über diese Welt hinaus und werden letztlich erst in der Begegnung mit Krishna ganz erfüllt werden.

Ganz gleich ob unser Verlangen nach Gelingen des Lebens, nach Erfolg, nach Heimat und Geborgenheit, nach Liebe und Freundschaft hier in unserem Leben erfüllt wird oder nicht, es verweist uns letztlich immer auf etwas, was jenseits der permanenten Erfüllbarkeit liegt. 

 

Nicht die sind also zu bedauern, deren Sehnsüchte nicht in Erfüllung gehen, sondern diejenigen, die keine mehr haben.

 

 

Rainer Maria Rilke hat in einem Gedicht seiner Vorstellung Ausdruck gegeben, dass Gott jedem Menschen, bevor er ihn in die Nacht dieser Welt hinausschickt, ein Wort mit auf den Weg gibt. Und dieses Wort lautet: "geh bis an deiner Sehnsucht Rand".

 

"Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge

Und keine Heimat haben in der Zeit."

 

Die Sehnsucht besteht darin, dass wir mitten im Trubel dieser Zeit leben, dass wir mitten im Gewoge unserer unruhigen Lebensfahrt wohnen, aber sich selber nicht definieren als eine Person aus und von dieser Welt.

 

Die Sehnsucht ist das Wertvollste, das der Mensch in sich trägt. Sie ist der Anker, den Krishna in unser Herz geworfen hat, um uns daran zu erinnern, dass unser Herz im Vorläufigen nicht zur Ruhe kommt. In der Sehnsucht ist in uns schon etwas, was die Welt übersteigt, über das daher die Welt keine Macht hat. Die Sehnsucht macht den Menschen heilig - ortet ihn in der Transzendenz an.

Wenn man wieder mit der Sehnsucht in Berührung kommt, relativiert sich die Last der vielen Probleme, der Krankheiten und Verletzungen - man spürt sogar, dass all diese Beschwernis die Sehnsucht noch mehr anstachelt. In der Sehnsucht berührt man Gott. Sie ist die Spur, die Krishna in unser Herz gelegt hat. Wenn man diese Sehnsucht wieder erfährt, dann spürt und erlebt man Seine Liebe und die Geborgenheit in Ihm inmitten der Kälte und Dunkelheit dieser Welt.