Funktion von Religion 1
Lange wurde Religion nur als Projektion, Entfremdung, soziale Repression, Regression oder psychischer Unreife gleichgesetzt und somit als erledigt betrachtet.
Erst später konstatiert man selber, dass man sich damit seiner eigenen metaphysischen und epistemologischen Wurzeln entbunden hat...
Zwar wurde die Religion – weil in Opposition zu Naturwissenschaft, Technologie, Industrie, Fortschritt an sich – in der Moderne verständlicherweise zunehmend ignoriert, verdrängt und aus dem Alltagsbewusstsein evakuiert. Aber in der Postmoderne stellt sich die Frage erneut: Welche Zukunft hat die Religion? Welchen Zweck?
Religionen können gewiss autoritär, tyrannisch und reaktionär sein und waren es allzu oft: Sie können Angst, Engstirnigkeit, Intoleranz, Ungerechtigkeit, Frustration und soziale Abstinenz produzieren, können Unmoral, gesellschaftliche Missstände und Kriege in einem Volk oder zwischen Völkern legitimieren und inspirieren.
Religionen können sich aber auch befreiend, zukunftsorientiert und
menschenfreundlich auswirken und haben es oft getan. Sie können Lebensvertrauen, Weitherzigkeit, Toleranz, Solidarität, Kreativität und soziales Engagment aufbauen, und können geistige
Erneuerung, gesellschaftliche Reformen und den Weltfrieden fördern.
Religion vermag eine spezifische Tiefendimension, einen umfassenden Deutungshorizont zu vermitteln, auch angesichts von Leid, Ungerechtigkeit, Schuld und Sinnlosigkeit, und kann auch einen letzten Lebenssinn auch angesichts des Todes zu geben: das woher und wohin unseres Daseins.
Religion vermag oberste Werte, unbedingte Normen, tiefste Motivation und höchste Ideale zu garantieren: das warum und wozu unserer Verantwortung.
Religion vermag durch Erfahrungen (Erlebnisspiritualität), Zeremonien und religiöse Ausführungen ein Zuhause des Vertrauens, des Glaubens bis hin zur verwirklichten Gewissheit, aber auch Geborgenheit und Hoffnung zu schaffen: eine geistige Heimat in einer fluktuierenden Welt.
Religion vermag Protest und Widerstand gegen Unrechtsverhältnisse zu begründen: die schon jetzt wirksame, unstillbare Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“.
Echte Religion, die sich auf das Absolute bezieht, unterscheidet sich wesentlich von Quasi- oder Scheinreligion, die etwas Relatives verabsolutiert, vergöttlicht.
Die religiöse Vielfalt
„Es hat mir immer sehr fern gelegen zu denken, dass Gottes Barmherzigkeit sich an die Grenzen der sichtbaren Kirche binde.“ Edith Stein
Haben die verschiedenen spirituellen Traditionen nicht total verschiedene und untereinander widersprüchliche theoretische und praktische Konzepte anzubieten? Unterschiede sowohl in ihren Lehren und Schriften wie in ihren Riten und Verehrungen, wie schliesslich auch in ihrer Ethik und Disziplin? Die Angehörigen der einzelnen Traditionen wissen meist nur zu gut voneinander, worin sie gerade in der Praxis eklatant nicht miteinander übereinstimmen. (Muslime, Hindus und Buddhisten enthalten sich des Alkohols, Juden und Muslims essen kein Schweinefleisch, Sikhs und orthodoxe Juden schneiden ihre Haare nicht, Hindus und Buddhisten glauben an die Reinkarnation, Muslime dürfen mehrere Frauen haben...)
Was ist ihnen aber gemeinsam, was verbindet sie denn noch angesichts vieler Divergenzen, Unvereinbarkeiten und Exklusivitäten?
Gewiss sind und waren Religionen immer in Versuchung, zum Zwecke des Machterhalts ihrer Institutionen, Konstitutionen, und Hierarchien nur um sich selber zu kreisen. Und doch vermögen sie als geeinte Kraft der Welt vermitteln, mit einer ganz anderen moralischen Kraft als dies internationale Organisationen tun könnten, dass es um das Wohl des Menschen geht.
Es geht um Gottes- und Nächstenliebe und dessen Radikalisierung, der Feindesliebe, um Gerechtigkeit, um die Überwindung menschlichen Leides, um das Erfüllen des Weltengesetzes, das Harmonie auch im Hier und Jetzt schafft. Menschenwürde, Menschenfreiheit, Menschenrechte lassen sich nicht nur positivistisch statuieren, sondern in einer letzten Tiefe eben nur religiös begründen.
Gewiss waren Religionen immer in Versuchung, sich auf spezielle Traditionen, rituelle Vorschriften zu fixieren und sich in ihnen so isolieren, dass man meinen könnte, sie hätten die einzige Wahrheit. Und doch können sie mit grosser und tiefer Autorität und Überzeugungskraft ethische Grundnormen und handlungsleitende Maximen in die Welt hineinstrahlen, die von einem Unbedingten, einem Absoluten her begründet werden und deshalb ein ganz anderes Gewicht haben als politische Parolen.
Religionen sind und waren immer in der Versuchung, legalistisch auf gewissen rigorosistischen Extremsituationen zu beharren. Und doch können sie die Menschheit für einen vernünftigen Weg der Mitte zwischen Libertinismus und Legalismus gewinnen. Denn alle Religionen fördern Handlungsbilder, die einen Weg der Mitte weisen, einen Weg zwischen Besitzgier und Besitzverachtung, Hedonismus und Asketismus, Sinnenlust und Sinnenfeindlichkeit, Weltverfallenheit und Weltverneinung... Es ist die in allen Traditionen zu findende Verantwortung sich selbst und er Umwelt gegegnüber, die Vermittlung innerer Werte als Steuermechanismus.
Gewiss sind und waren Religionen immer in Versuchung, sich in einem unendlichen Gestrüpp von Geboten und Vorschriften, Kanones und Paragraphen zu verlieren. Und doch können sie eine oberste Gewissensnorm vermitteln, einen kategorischen Imperativ, der alle in der Tiefe und in seiner Grundsätzlichkeit verpflichtet
Gewiss sind und waren Religionen immer in Versuchung, Menschen autoritär zu kommandieren, blinden Gehorsam zu fordern, und die Freiheit und die Individuation des Einzelnen zu vergewaltigen. Doch sie vermitteln auch motivierende Lebensmodelle, die Biographien der Heiligen, die die ethischen Modelle nicht nur trocken vordozieren, sondern durch ein konkretes Lebensmodell zur Nachfolge einladen.
Gewiss sind und waren Religionen immer in Versuchung einer doppelten Moral, nämlich die Gebote und ethischen Forderungen nur anderen zu predigen und sie selber nicht anzuwenden.
Doch können sie durch eine letztliche Zielbestimmung einen Sinnhorizont auf der Erde aufleuchten lassen, denn alle Religionen beantworten die Frage nach dem Sinn des Ganzen, einer Existenz über den Tod hinaus.
Denn alle Religionen verbindet
-eine Überzeugung von der fundamentalen Einheit der menschlichen Familie, von der Gleichheit und Würde aller Menschen
-eine Verbundenheit mit aller Kreatur – dass wir nicht das Recht haben zu zerstören, was nicht von uns geschaffen wurde
-ein Gefühl der Unantastbarkeit des Einzelnen, die Unverfügbarkeit der menschlichen Person und die unveräusserliche Freiheit des Menschen.
-eine Erkenntnis, dass Macht nicht gleich Recht ist, dass also menschliche Macht nicht sich selbst genügen kann und nicht absolut ist.
-dass Glaube, dass Liebe, Mitleid, Selbstlosigkeit und die Hingabe zu Gott letztlich grössere Macht haben als Hass, Feindschaft und rücksichtsloses Vertreten von Eigeninteressen.
-ein Gefühl der Verpflichtung, an der Seite der Armen und Unterdrückten zu stehen, eine notwendige Solidarität untereinander
-eine tiefe Hoffnung, nicht von dieser Welt zu sein. Ewig zu sein und somit zu allem vorläufigen Schönen und Bösen doch letztlich transzendent und unberührt zu sein.
-dass wir von Gott erwartet sind, der ein aktives Interesse hat, unsere Zeitweiligkeit mit der Vermittlung seiner Lieblichkeit zu durchbrechen.