Inexistente Hölle

 

 

Die Angst ist sinnbildlich die Hölle des Diesseits. Die Angst vor dem Tod reduziert uns auf menschliche Dimensionen und ist quasi das Rezept gegen die Selbstvergottung.

Das ist ihre natürliche Schutzfunktion.

 

Aber alle Glaubensgemeinschaften instrumentalisieren die Angst der Menschen für ihre Zwecke. Aus psychologischer Sicht ist die Drohung mit der Hölle ein Disziplinierungsinstrument, das bei Kindern traumatische Reaktionen auslösen kann. Bei Erwachsenen erzeugt es eine Schwere, welche die ursprüngliche Freude und Leichtigkeit des inneren Weges zerstört. Als ob das Diesseits nicht schon genug Ängste auf Lager hätte, bauen praktisch alle grossen Religionen seit Tausenden von Jahren eine Drohkulisse für das Leben nach dem Tod auf.

Ein post-mortales Auschwitz wird einem da gedroht, wenn man die Gebote nicht genau befolgt. Kein diktatorischer und tyrannischer Staat hat jemals so drakonische Strafen gesetzt wie die religiösen Traditionen, welche die ewige Verdammnis kennen. Das Bild Gottes ist deshalb besonders angstbesetzt.

 

 

Der Übergang zwischen dem freundlich frommen Glauben zu einem fundamentalistischen Wahn-System ist schleichend.

Wenn Menschen an das Wohl Gottes glauben, kann sich das schnell radikalisieren und zu einer ungesunden Haltung führen. Da ist man bereit, für die Erwirkung dieses Wohles jedes Opfer zu bringen und auch andere gegen ihren Willen mit inquisitorischen Eifer zur Umkehr zu bewegen. Mit solch nachtodlichen Höllen-Drohungen verabsolutiert man seinen Lösungsvorschlag.

 

Glaubensgemeinschaften, die Gläubigen mit der Hölle oder postmortalen schlimmen Konsequenzen drohen, bräuchten dringend eine Aufklärung. Wir haben in der Zivilgesellschaft die schwarze Pädagogik dank den Menschenrechten überwunden und die Welt menschlicher gemacht. Es wäre wesentlich, dass diese Menschlichkeit auch in die Religionen Einzug hält. Auf diese Erkenntnis sollten die Weltreligionen verpflichtet werden können.

 

Das Bhagavatam selbst sieht die Hölle als einen symbolischer Zustand. Krishna erklärt in der Uddhava-Gita (11.19.42–43): „Hölle ist das Ausdehnen von Tamas (Trägheit, geistige Dunkelheit). Himmel ist das Ausdehnen von Sattva (innere Harmonie, Verankerung im Selbst).“

Samika Rishi beklagte und bereute es zutiefst, dass sein Sohn Maharaj Pariksit verfluchte: „Was für ein Verfehlen beging mein Sohn! Man darf nicht schwere Strafen geben für unbedeutende Vergehen.“ (Bhagavatam 1.18.41). Gemäss diesem Verständnis des Bhagavatam ist also eine ewige Verdammnis oder Millionen von Jahren furchtbarer Qualen (5.26.14) immer eine ungerechte Strafe für Vergehen, die wir in diesem Leben begehen.

 

Die kritische Text-Exegese und auch Bhaktivinoda Thakur (in der Krishna-Samhita und in „The Bhagavat) erklären, dass das 26. Kapitel vom 5.Canto des Bhagavatam, welches furchtbare Höllenbeschreibungen beinhaltet, später dazugekommen ist. Es wurde von Brahmanen, welche dem moralischen Leben ein wenig Druck machen wollten, erfunden und ins Bhagavatam interpoliert.

Wenn ich dies mit Vaishnava-Gelehrten diskutiert hatte, waren sie auch dieser Ansicht. Und dennoch habe ich nirgendwo öffentlich gesehen, dass man sich davon distanziert. Die Folge ist, dass gutgläubige Vaishnavas dies noch immer lesen und aufnehmen. So wird der innere Weg mit der Angst vor schlimmsten Höllenqualen besetzt, die selbst für lapidare kleine Vergehen angedroht werden.

Wenn jemand einen Gast nicht bewirtet, wird dann in eine Hölle geschickt, wo er 100`000 Jahre von Würmern zerfressen wird (Bhagavatam 5.26.18).

Was wäre das für ein Gott, der solche barbarische Strafen für relative Belanglosigkeiten verhängt? Kein Unterdrücker in der Geschichte der Menschheit könnte mit solch abstruser Rechtsprechung mithalten.

Für ausserehelichen Sex wird man in einer Hölle mit Peitschen geschlagen und muss einen Partner aus glühendem Eisen umarmen. (5.26.20). Ein Haushälter, der seinen Gast nur böse anschaut, gelangt in eine Hölle, wo Hyänen und Krähen mit grosser Gewalt seine Augen herausreissen werden. (Bhagavatam 5.26.35)

Solche ewigen Höllen-Androhungen werden einen Schatten auf den freudvollen inneren Weg legen und hat viele Seelen in eine disfunktionale Spiritualität gedrängt bis hin zu einer ekklesiogenen Neurose. (siehe: „wenn Glaube krank macht“ – www.radhe.ch unter „kritischer Blick“)

Dann heisst es in diesem fragwürdigen Kapitel noch: „Wer fehlender Respekt gegenüber jemandem von höherer Geburt und höherer Kaste hat, gelangt in eine schreckliche Hölle.“ (Bhagavatam 5.26.30). Das scheinen sich die Brahmanen, die dieses Kapitel ins Bhagavatam eingefügt hatten, sich selber noch ein bisschen besser positionieren zu wollen (auch 5.26.14 und 16). Dieser Vers legitimiert das Kastensystem, was mit dem gesamten Geist der Bhagavad Gita und des Bhagavatam nicht zu vereinbaren ist. Der bekannte Indologe und Bhagavatam-Forscher Klaus Klostermeier (Autor von „Als Christ in Vrindavan“) zeigte mir in Vrindavan persönlich alte Ausgaben des Bhagavatam, wo dieses Kapitel noch gar nicht enthalten war. Wahrscheinlich wurde es von Brahmanen erst im 16. Jahrhundert ins Bhagavatam eingefügt, um mit post-mortalen Drohungen das moralische Verhalten stärken zu wollen (und dabei auch gleichzeitig den Brahmanen-Status ein wenig aufzupolieren...)

Philosophisch gesehen ist im vedischen Denken die Existenz einer Hölle gänzlich überflüssig, da Seelen mit einem Überschuss an gutem Karma in himmlische Sphären inkarnieren können und die übermässige Anhäufung von schlechtem Karma (Disharmonie mit den Grundgesetzen dieser Welt) in eine tierische oder pflanzliche Lebensform führt. Zur eigenen Berichtigung bedarf man nämlich nicht des Leidens, was nur noch verkrampfter macht. In der Lebensform von Tieren und Pflanzen ist einem einfach der Handlungsspielraum für disharmonisches Handeln entzogen. Alles, was man zu tun vermag, darf man auch – in der menschlichen Form vermag man vieles zu tun, was man nicht dürfte und hat deshalb Verantwortung. Das heisst, man lernt da wieder gezwungenermassen harmonisches Handeln, um es dann freiwillig als Mensch wieder ausdrücken zu dürfen.  

 

Die Lehre der Höllen-Verdammnis ist schwerwiegend und stellt nicht ein Richtspruch Gottes dar, sondern eine krankhafte Manifestation des menschlichen Vernichtungstriebes.

Da sich diese Lehre über Jahrtausende in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingebrannt hat, braucht es schon eine aussergewöhnliche Bemühung, ihren Einfluss in der menschlichen Psyche wieder zu neutralisieren.

In einem drin hält etwas eine emotionale Bindung an diese Lehre aufrecht. Es ist das naive Gefühl eines Aufgehoben-Seins, wenn Gott als Richter einfach einige belohnt und andere verdammt. Daraus ergibt sich eine sehr klare moralische Struktur, die den Kleingeist heimisch werden lässt.

Bereits der frühe Kirchenvater Origenes wendet sich gegen die Lehre einer Höllen-Verdammnis mit einer Apokatastasis-Lehre, die auf die Wiederherstellung des perfekten Zustandes hinzielt.

Dabei deutet er die biblischen Aussagen über die Hölle als Sinnbilder, die übertragen werden müssen. Von Platon beeinflusst, vergeistigt er das Höllenfeuer und sieht darin die rein geistigen Qualen des Gewissens, die im Betrachten eigener Verfehlungen am Ende seines Lebens entstehen. Nach ihm wird selbst der Teufel in die All-Versöhnung mit eingeschlossen. Dass diese Interpretation von Macht-Institutionen als unbequem gesehen wurde, weil sie die naive Vorstellung von Lohn und Strafe aufhebt, zeigt sich im 6. Jahrhundert mit dem Edikt Kaiser Justinians, welches im Jahre 543 Origenes zum Häretiker verurteilte.

Viele Vaishnavas verstehen diese Höllenbeschreibungen aber selbst im 21. Jahrhundert noch immer wörtlich und glauben an eine effektive Existenz einer Hölle...

 

Seit dem Zeitalter der Aufklärung bis in die Gegenwart wird die Hölle als angstauslösende Vorstellungswelt kritisiert bzw. verworfen, die für weltliche Zwecke oder zur Unterwerfung der Gläubigen eingesetzt worden sei – mit Hilfe ihrer Furcht vor dem Tod und dem, was danach kommt.

Wenn es so einen Gott wirklich gäbe, der Seelen für Ewigkeiten in ein Flammenmeer verstossen kann, dann wünsche ich mir, dass ich nie zu den Schergen eines solchen Tyrannen gehören würde.

„Wenn ein solcher Gott existieren würde, dann müsste man ihn beseitigen.“ (Bakunin)

 

Bricht etwas im eigenen Glaubens-System zusammen, wenn man erkennt, dass es im vedischen Weltbild keine Hölle gibt?

Macht die Erlösungstat der Heiligen nur Sinn, wenn es eine Jenseits-Bedrohung gibt? Tut man das Wahre nur aus der Angst vor einem postmortalen Ausschwitz?

Ergibt die Errettung durch die Heiligen erst Sinn, wenn man in einer gefährlichen Welt vollkommen verloren ist?

Wenn diese Fragen bejaht werden, leidet die Faszinationskraft der Seele. Da ist etwas tief eingeschlafen und nur noch auf ein leeres Gerüst zusammen geschrumpft. Der Transzendenzbezug wird disfunktional, wenn er mitmotiviert wird durch nachtodliche Schreckens-Szenarien und Verheissungen.

 

 

Die meisten religiösen Traditionen habe die Wiederherstellung unserer eingeschlafenen Gottesliebe als „Himmel“ bezeichnet. Deren Vergessenheit wurde „Hölle“ genannt. Wenn man diese Zustände aber nicht als Haltungen des eigenen Bewusstseins versteht, degradiert die spirituelle Tradition in ein Lohn-und Strafsystem. Als Folge reduziert man den inneren Weg zu moralischer Massregelung und glaubt, dass Religion ein Evakuierungsplan für eine kommende Welt sei, anstatt eine Wiederaufnahme des liebenden Dienens unabhängig davon, wo man sich gerade befindet.

Für die aufgeklärtere Spiritualität ist die Hölle nur ein Metapher für die innere Not und nicht wirklich real (Bhagavatam 3.30.29 – auch im Caitanya Caritamrita wird das Höllenleiden im übertragenen Sinn gebraucht: Madhya lila 22.12). Aber dann muss man sich fragen, wofür dann diese religiös überfrachtete Sprache überhaupt noch sinnvoll sei, wenn es sowieso anders zu verstehen ist.

 

Das Individuum wird von Krishna nicht als gehorsamspflichtiger und auf Unterwerfung fixierter Gottesknecht verstanden, dem eine selbstbestimmte Handlungsautonomie abgesprochen wird, sondern er möchte das Gegenüber der Seele auf Augenhöhe begegnen.

 

Solange man Höllen jenseits dieser Welt effektiv als Wirklichkeit betrachtet, was in Europa bis zur Aufklärung der Fall war, lebt man in einer Phobokratie, in einer Herrschaft, die von Angst diktiert wird.

 

Die Seele ist von Krishnas Standpunkt nicht ein entsubjektiviertes Wesen, dem nur ein Zwangskatalog des Handelns aufoktiyiert zu werden braucht. Erst wenn Krishna einer Seele alle Handlungsoptionen gänzlich offen legt und ihr die Abwendung von ihm auch nicht mit postmortalen Drohgebärden besetzt, wird die Gottesliebe zur Möglichkeit.

 

 

Eine interessante Stelle findet sich dazu in Bhaktivinod Thakurs „Jaiva Dharma“ (Kap 11). Es ist eine Antwort auf einen Einwand, den ein muslimischer Gelehrter den Babajis vortrug und sie mahnte, dass die Verehrung, die die Hindus tun, vielleicht vom Teufel komme.

 

„Ishvara ist zweitlos – niemand kann mit Ihm konkurrieren. Alles, was in der Welt ist, ist von Ihm emaniert und abhängig. Also: was man auch nehme, um dadurch seine Verehrung zu tun, durch alles kann Er zufriedengestellt werden. Es gibt nichts, was durch Verehrung zu Schaden aufgestachelt wird. Er ist paramangalamaya {all-heilbringend}. Wenn es also so etwas wie einen Shaytan {Teufel} gäbe, dann hat er keine Kraft, etwas zu tun, was dem Willen der Gottheit entgegen ist. Wenn es einen Shaytan gäbe, dann ist er eine abhängige Seele. Aber nach unserer Erwägung ist die Existenz einer solchen Seele unwahrscheinlich, denn es kann in der Welt nichts geben, was dem Willen des Herrn zuwider handeln könne. Und es gibt nichts und niemand, was von Gott unabhängig (svatantra) wäre. Ihr könnt natürlich die Frage stellen: Wo kommt die Sünde her? Wir sagen: die Seele ist Bhagavat-Dasa (ein ewige Diener Gottes). Diese Erkenntnis (jnana) nennt man Vidya (Einsicht), und sie vergessen nennt man Avidya (Unwissenheit). Wenn die Seele im Verlauf ihrer Entwicklung diesem Nicht-Wissen verfällt, dann senkt sich in das Herz der Keim zur Sünde. Die Nityaparshada-Jiva-s {die ewig-beigesellten Jiva- s} haben diesen Papa-Bija {Sünden-Keim} nicht in ihrem Herzen. Es ist wichtiger, dass man erfasst, was diese Avidya bedeutet, statt so etwas Sonderbares wie einen Teufel zu erfinden.“

 

Im Katechismus der Kirche im Jahre 1992 steht noch, dass es eine Hölle gäbe und dass darin das Feuer glühe. Wie muss eine Lehre hasserfüllt sein, dass sie mit Menschen derart verurteilend umgeht? Und nun wollen die Vaishnavas im 21. Jahrhundert noch immer an die Existenz einer Hölle glauben?

 

Die faschistische Ideologie des Nationalsozialismus vergiftete ihre Anhänger mit Ressentiments und Hass und teilte die Welt in Freund und Feind ein. Sie drohte ihren Gegnern mit Vergeltung (es gab selbst Sippenhaft für Familienmitgliedern von Verrätern – das heisst von hingerichteten Gegnern der menschenunwürdigen Ideologie).

Sie richtete sich gegen die Moderne, die Aufklärung, den Marxismus und die Juden und glorifizierte Militarismus und die Opferbereitschaft bis in den Tod. All diese Eigenschaften treffen auch auf den modernen Islamismus und fundamentalistische Auslegungen der Religion zu.

 

Wenn faschistoide Züge in die Religion hineingeraten, müssen sie mit gleicher Vehemenz in Frage gestellt werden und können nicht im Namen von Toleranz und Religionsfreiheit verharmlost werden.

Diese Grundlage teilen sich Atheisten mit aufrichtigen Gottsuchern.