Kryptoreligiosität

 

In einem heiligen Kosmos zu leben, in dem alles göttlicher Ursprung und deshalb auch göttlicher Sinn hat, gibt ein grundsätzlich verschiedenes Grunderleben wie ein Mensch, der sich in einer entsakralisierten rein profanen Welt erlebt.

 

Die gänzlich materialistische Weltanschauung ist historisch gesehen ein neues Phänomen.

 

Wenn der Mensch entbunden von seinem Ursprung im Universum sinnlos irrt, ist eine latente Einsamkeit die Erfahrung. Die wird krampfhaft zu überdecken versucht mit dem Substitut von Karriere, Besitz, Einfluss, Genuss-Empfindungen und Familie, die einen Schein-Sinn vermitteln sollen.

Aber auch in einer entsakralisierten Welt bleiben religiöse Ursehnsüchte bestehen, Spuren einer religiösen Wertung. Sie erscheinen im Bestreben nach Beständigkeit, Substanz, im Mühen um moralische Fundamentalwerte wie zum Beispiel Ehrlichkeit und Verlassbarkeit.

 

Der areligiöse Mensch hat sich erst in der modernen säkulären Gesellschaft entfaltet und etabliert. Der moderne areligiöse Mensch betrachtet sich als Produkt der Historie und verweigert sich dem Bezug zum Transzendenten hin. Nach seinem Verständnis heraus existiert nicht inhärenter Sinn, und so muss er sich intrapsychisch einen kreieren.

Das Sakrale steht zwischen ihm und seiner (rücksichtslosen) Freiheit. Er denkt, er könne nicht sich selbst werden, ehe er sich nicht von Grund auf entmystifiziert hat.

Aber dieser moderne areligiöse Mensch ist aus dem homo religiosus hervorgegangen.

 

Und so ist doch der Mensch nie religionslos und er verhält sich noch immer religiös, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Der moderne Mensch, der sich als areligiös bezeichnet und empfindet, verfügt noch über eine ganze verkappte Mythologie und viele verwitterte Ritualismen. So haben zum Beispiel Neujahrsvergnügungen oder Hauseinweihungen, obwohl sie verweltlicht sind, noch immer die Funktion eines Erneuerungsrituals. (Auch die Heirat, der Tod, die Geburt). Grosskonzerte und Sportanlässe sind in ihrem Wesen eigentlich religiöse Veranstaltungen nur ohne religiösen Inhalt. Feuerzeuglichter werden geschwungen, rituelle Handlungen vollzogen und im grossen gemeinsamen Gefühl strebt die Masse über sich hinaus.

Aber nicht nur im Alltag sind versteckte und degenerierte religiöse Verhaltensweisen zu finden, sondern auch in Bewegungen, die sich weltlich nennen. So zum Beispiel in der Nacktkultur oder in den Bewegungen für absolute sexuelle Freiheit. Das sind Ideologien, in denen sich Spuren des Heimwehs nach einer freien Welt, der spirituellen Wirklichkeit, spiegeln. Im Tourismus wird die alte Sehnsucht des Aufbruchs, des Pilgerns reflektiert.

Auch die enstakralisierte Existenz weist die Spuren der religiösen Wertung auf.

 

Dem entsakralisierten Menschen fehlt das Grundgefühl des Aufgehobenseins und er fühlt sich einsam in einem riesigen leeren Raum, einer amorphen Masse, in der in dieser chaotischen Homogenität keine Orientierungspunkte mehr zu finden sind. Doch auch innerhalb der Erfahrung des profanen Raumes tauchen noch Werte auf, die an ein religiöses Raumerlebnis erinnern. So gibt es Gegenden, die von den übrigen qualitativ verschieden sind: die Heimat, die Landschaft der ersten Liebe usw. Alle diese Orte behalten selbst für den völlig unreligiösen Menschen eine aussergewöhnliche, einzigartige Bedeutung. Sie sind die heiligen Stätten seines privaten Universums, so als habe sich diesem unreligiösen Menschen eine Realität offenbart, die anderer Art ist als die Realität seiner Alltagsexistenz.

Das religiöse Erleben, welches einen nicht mehr auf Gott bezieht und sich in die Unendlichkeit seiner Schöpfung verstreut, ist Kryptoreligiosität, religiöse Verhaltensweisen und Sehnsüchte, welche in den profanen Raum übertragen wurden. Es ist anonyme Religiosität – ein Verhalten, das eigentlich weltlich ist, aber die darin wohnende Sehnsucht eine tief religiöse darstellt.

Ludwig Feuerbach, der Vater des modernen Atheismus, wirft modernen Christen anonymen Atheismus vor.

„Die wahren Atheisten sind die heutigen Christen, die behaupten, an Gott zu glauben, aber genau so leben, als ob er nicht existierte. Diese Christen glauben nicht mehr an die Güte, die Gerechtigkeit, die Liebe, d.h. alles, was Gott definiert. Diese Christen, die nicht mehr an das Wunder, sondern an die Technologie glauben, die Vertrauen in die Lebensversicherung setzen als ins Gebet, die angesichts des Elends nicht mehr im Gebet Zuflucht suchen, sondern beim Vorsorgestaat.“

 

Und umgekehrt finden wir in der modernen Weltlichkeit religiöse Grund-Sehnsüchte.

 

Wie lassen sich pervertierte und authentische Formen des Religiösen unterscheiden? Eine authentische Religion erzieht zur Ehrfurcht vor der Unerklärlichkeit der Welt. Im Lichte des Glaubens wird die Welt ‚größer‘, denn sie behält ihr Geheimnis und der Mensch versteht sich als Teil davon. Er bleibt sich selbst ungewiss. Für die Ersatzreligion schrumpft die Welt. Ihr Anhänger findet in allem und jedem Ding nur noch die Bestätigung seiner Meinung, die er mit der Inbrunst des Glaubens gegen den Rest der Welt und gegen die eigenen Zweifel verteidigt. Besonders gefährlich wird es, wenn diese Monomanie ins Politische durchschlägt und zur Methode wird, die Welt aus einem einzigen Punkt gewaltsam zu kurieren.

Die totalitären Ideologien des vergangenen Jahrhunderts – Nationalsozialismus ebenso wie der Kommunismus und natürlich auch institutionalisierte Religion – haben sich in diesem Sinne als perverse Religionen erwiesen. Ihre Weltbilder beanspruchen, das wahre Wesen von Natur und Geschichte erkannt zu haben. Sie geben vor, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sie wollen das Ganze begreifen und greifen nach dem ganzen Menschen. Sie geben ihnen die Geborgenheit einer Festung mit Sehschlitz und Schießscharte. Sie kalkulieren mit der Angst vor dem offenen Lebensgelände, vor dem Risiko der menschlichen Freiheit, die stets auch bedeutet: Ungeborgenheit, Alleinstehen, Ungewissheit. Sie wollen den Menschen von seiner schwierigen Freiheit, ein Einzelner zu sein, befreien und in ein Kollektiv eingliedern: Dort darf er sich zugehörig fühlen – im verfeindenden Gegensatz zu denen, die nicht dazugehören. Dieser Gegensatz ist von elementarer Bedeutung: Das Gefühl dieser Art Zugehörigkeit ist, genau besehen, nichts anderes als die Abgrenzung von den Feinden und dem Fremden. Die totalitären Ideologien als Religionsersatz wollen den Menschen von der Freiheit, die immer auch das Gefühl des Fremdseins und der Einsamkeit einschließt, befreien, da sie einen nicht die Erfahrung effektiver Aufgehobenheit vermitteln können.

 

Kryptoreligiosität vermag letztendlich die zutiefst empfundene Sinnleere nicht zu ersetzen. Der Mangel bleibt.