Religiöse Weiterentwicklung
Religiosität ist oft vergangenheitsbezogen.
Wo sie nicht wächst, zerfällt sie. Wie mit allem Leben. Stillstand ist Rückschritt und Tod.
Es ist verkehrt und methodisch falsch, die theologische Aufgabe auf die blosse Nachahmung dessen zu beschränken, was unsere Vorfahren gemacht und getan haben.
Religion ist in diesem Sinne immer ein gewagtes Unternehmen, ein Risiko, sich zur terra incognita zu begeben. Würde dies aber unterlassen, reduzierte sich spiritueller Wachstum auf eine Entwicklungsgeschichte des Dogmas, eine Erläuterung von etwas im Grunde bereits Gegebenen.
Gäbe es ein derart statisches religiöses Bewusstsein, bestünde unsere Aufgabe einzig darin zu entfalten, was bereits da und ein für alle Mal gegeben ist.
Die physikalische Theorie eines sich ausbreitenden Universums gibt ein gutes Gleichnis ab für das, was sich auch auf ontologischer Ebene ständig vollzieht.
Religiöses Wachsen ist nicht nur Evolution, Reform oder Verbesserung, es ist echte Mutation, einen qualitativen Sprung in etwas ganz Neues.
Die letzte religiöse Wahrheit fällt nicht in den Bereich lehrmässiger Festlegungen oder gar individueller Befangenheiten. Deshalb kann es nur durch aufrichtiges Weiterwachsen – unter seiner Führung – erahnt werden. Einstellung des Wachsens bedeutet Zufriedenheit mit dem Vorläufigen, Stagnation im Relativen.
Die Heiligen, die einst erschienen sind, würden heute wieder ganz Neues tun. Das ständige Wachsen muss ein grundlegendes Element sakraler Theologie sein.
Wachsen ist nicht nur Entwicklung oder Entfaltung. Im Wachsen gibt es Kontinuität und ebenso Neuheit, Entwicklung ebenso wie Integration des Fremden, das im Verlauf des Wachstumsprozesses verinnerlicht, inkorporiert wird.
Wachsen ist also nicht nur Kontinuität und Entwicklung, sondern auch Verwandlung und Revolution. Darin gibt es keine Vorhersehbarkeit, welchen Weg man dann noch gehen wird. Die Zukunft ist nicht bloss Wiederholung und Weiterführung der Vergangenheit.
Wir wissen nicht, wohin unsere Reise noch geht. Doch in dieser allgemeinen Ungewissheit ist das grösste Wachstum möglich. Und darin sind wir verbunden als Menschen, als Geschwister auf dem Weg.
Alles hat die Feuerprobe einer radikalen Überprüfung zu bestehen. Die Forderung nach metanoia ist umfassend. Auch der religiöse Mensch kann sich da nicht heraushalten, indem er Ohren und Augen verschliesst und einfach zum Himmel starrt (Transzendenzbezug) oder dem Vergangenen nachtrauert (vedischer Kultur, Prabhupadas Zeiten). Er kann seine Mitmenschen nicht ignorieren und so tun, als hätte ihm seine Religion einen Freibrief ausgestellt, der ihn von jedem künftigen Lernen und Sichverändern entbindet. Er muss sich mitten in die aufgewühlten Wasser der See werfen und zu gehen anfangen, auch wenn seine Füsse wanken und der Mut ihn verlässt.
Religion darf nicht die wachsende Saat ersticken, sondern soll die Blüten personalen Wachsens fördern, inspirieren und leiten.