Spielregeln der religiösen Begegnung


  1. Sie ist frei von jeder spezifischen Apologetik 

(aus dem griechischen Apologia - "Verteidigung", "Rechtfertigung") 

Apologetik bezeichnet den Teil der wissenschaftlichen Beschäftigung mit einer bestimmten Religion, der versucht, die Wahrheit und den Wert dieser Religion unter Beweis zu stellen. Apologetik hat ihre Aufgabe und ihren Platz, aber nicht in der religiösen Begegnung.

 

 Näherte sich ein Christ oder ein Buddhist oder ein anderer Gläubiger einem Andersgläubigen in der vorgefassten Absicht, seine Religion mit allen aufrichtig und ehrlich gemeinten Mitteln zu verteidigen oder zu proklamieren, würde man Zeuge einer wertvollen Verteidigung dieser Religion und anregender Diskussion werden, nicht aber eines religiösen Gespräches, einer echten Begegnung und Befruchtung.

Dazu muss man seinen Standpunkt nicht aufgeben, sondern nur die Bereitschaft haben, den Standpunkt des Anderen wirklich ergreifen zu wollen.

 

Eine Missachtung dieser Folgerung bedeutet einen Mangel an Vertrauen in den Gesprächspartner. Man denkt, manchmal auch ganz feinstofflich, dass er falsch liege und eigentlich bekehrt werden müsse. 

 

  1. Sie muss frei von jeder allgemeinen Apologetik sein

Die Ängste des religiösen Menschen in der heutigen Zeit des Säkularismus und des Atheismus sind verständlich. Dennoch ist es falsch, diesen Ängsten zum Opfer zu fallen, indem man eine Art religiöse Liga, eine Art Kreuzzug, der „Frommen“, der religiösen Menschen aller Konfessionen ins Leben ruft.

 

Die Missachtung dieser Folgerung zeigt einen Mangel an Vertrauen in die Wahrheit des Gottesbewusstseins (als Transzendenzbezug) auf.

Die Frontenbildung gegen die Gottlosigkeit ist in sich keine religiöse Haltung und sie entspricht nicht dem Entwicklungsgrad des heutigen religiösen Bewusstseins. 

 

3. Man muss der Herausforderung der Konversion begegnen

Soll die Begegnung eine echte religiöse sein, muss sie vor allem der Wahrheit treu und für die Wirklichkeit offen bleiben. Die echte religiöse Geisteshaltung weiss sich nicht nur der Vergangenheit verpflichtet (der eigenen Tradition), sondern auch der Gegenwart (der Weiterentwicklung des Glaubensinhaltes).

Ein religiöser Mensch ist weder ein Fanatiker noch jemand, der immer und auf alles eine Antwort bereit hat. Dieses Phänomen existiert nur in der Anfangsphase, wenn ein Spiritualist noch nicht das Ausmass der Wahrheit jenseits von Konzepten erfasst und berührt hat.

Er bleibt immer auf der Suche, ein Pilger, der seinen Weg zu finden hat, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Die vor ihm liegende Spur ist noch jungfräulich und unberührt. Der religiöse Mensch erlebt jeden Augenblick als neu und ist umso mehr erfreut, wenn er darin das erregende Schöne einer persönlichen Entdeckung und zugleich die Tiefen eines bleibenden Schatzes findet, den seine Glaubensvorfahren an ihn weitergegeben haben.

 

Aber das Feld der religiösen Begegnung zu betreten stellt immer ein Wagnis und eine Herausforderung dar. Der religiöse Mensch betritt eine Arena ohne Vorurteile und vorgefasste Konzepte. Er ist sich voll im Klaren darüber, dass er möglicherweise bestimmte Teile seines Glaubensbekenntnisses oder gar eine bestimmte Religion überhaupt aufgeben und verlieren wird. Er vertraut der Wahrheit vollkommen. Sie führt ihn weiter. Er geht unbewaffnet hinein, bereit, selber ein anderer zu werden. Vielleicht wird er seine bisherige Identifikation verlieren, vielleicht wird er sein Leben verlieren – vielleicht wird er auch neu geboren werden.

Die Möglichkeit einer Bekehrung muss zugelassen werden – und sie kann so tiefgreifend sein, dass die Überzeugungen und Bekenntnisse, an denen man bisher festgehalten hat, sich vielleicht in Luft auflösen oder doch einem grundlegenden Wandel unterzogen werden. Das Unternehmen ist gefährlich und kaum jemand wäre dem gewachsen, wenn nicht aus dem Drang des Glaubens selbst heraus, der uns ermuntert, unser Leben furchtlos aufs Spiel zu setzen.

 

4.Die historische Dimension ist notwendig, reicht allein aber nicht aus

Religion ist nicht blosse Privatsache, nicht nur ein vertikaler „Draht nach oben“, sondern ist nicht denkbar ohne Tradition, der geschichtlichen Dimension. 

Jeder religiöse Mensch trägt das reiche Erbe der vergangenen Heiligen mit sich und auch die Last der Überlieferung (das kollektive Karma der Tradition).

Aber dennoch ist er kein offizieller Repräsentant der Tradition, sondern ein Individuum, ein Glaubender innerhalb einer lebendigen religiösen Tradition. 


Die religiöse Begegnung muss sich mit der historischen Dimension auseinandersetzen, aber sie darf dabei nicht stehen bleiben. Es handelt sich nicht um ein Treffen von Historikern, schon gar nicht von Archäologen, sondern um ein lebendiges Gespräch, einen Ort, an dem schöpferisches Denken und das phantasievolle Entwerfen neuer Wege gefragt sind, die nicht mit der Vergangenheit brechen, sondern sie irgendwie fortsetzen, beleben und erweitern.

(Man kann in der historischen Betrachtung der Tradition nicht nur bei der Bibelauslegung eines Hieronymus stehen bleiben oder den Hinduismus nicht einfach nur mit Vyasa und Patanjali begründen und die gegenwärtigen Betrachtungen Bhaktivinodas oder Frawleys ausser acht lassen)

 

Bei der religiösen Begegnung geht es nicht um die „Religionsgeschichte“ oder die „vergleichende Religionswissenschaft“, sondern der lebendige und fordernde Glaube. Glaube ist Leben und Leben lässt sich nicht auf eine Nachahmung des Vergangenen oder eine blosse Neuauslegung desselben beschränken.

Die religiöse Begegnung ist ein religiöses Ereignis.

 

5.Es ist nicht eine philosophisches Streitgespäch

Ohne philosophisches Verständnis ist keine Begegnung möglich, und doch geht es in der religiösen Begegnung nicht um das Diskutieren von philosophischen Problemen.

Religionen sind mehr als Lehren. Innerhalb einer Religion gibt es eine Pluralität von Lehrmeinungen, die oft noch viel divergierender sind als die Religion des Anderen.

Eine Religion auf ein bestimmtes Lehrsystem festzunageln wäre der Tod der Religion. Eine Lehrmeinung darf nie als einzigartiger und unersetzbarer Ausdruck einer Religion betrachtet werden.

Sicher, Schöpfung, Gott, Nirvana und ähnliches sind wichtige Begriffe, aber worum es in der Religion wie in der religiösen Auseinandersetzung eigentlich geht, ist etwas anderes: das wahre und wirkliche „Etwas“, auf das diese und andere Begriffe verweisen.

 

Um den anderen wirklich verstehen zu können, muss man in den anderen spüren, und das setzt ein Verständnis voraus, was Auslegung und Interpretation eigentlich meinen. Die goldene Regel der Hermeneutik lautet, dass das Interpretierte in der Lage sein muss, sich in der Interpretation wiederzuerkennen. Jede Auslegung einer Tradition, die von aussen an sie herantritt, muss zumindest phänomenologisch mit einer Auslegung von innen her deckungsgleich sein, das heisst mit einer Sichtweise des Gläubigen selbst.

 

(Bsp: einen Murtipujaka als Götzenanbeter zu bezeichnen, wobei man das Wort „Götze“ versteht, wie es im jüdisch-chtistlich-islamischen Zusammenhang verstanden wird, wäre unangebracht. Dafür muss man das vedische Verständnis heranziehen, in dem das „murti“ von einem grösseren philosophischen und religiösen Zusammenhang gestützt wird, und dem man nicht einfach ein fremdes Verstehen überstülpen darf.)

Es gibt das Prinzip der Homogenität, das besagt, dass Gleiches nur von Gleichem erkannt werden kann. Ein Begriff oder eine Idee lässt sich nur innerhalb eines homogenen Zusammenhangs angemessen verstehen und bewerten. Jeder kulturelle Wert ist von einer besonderen Sphäre umgeben, innerhalb derer er erst richtig zur Geltung und zum Blühen gelangt. Jede unberechtigte Extrapolation und Übertragung stiftet nur Verwirrung und Missverständnis. Nichts schadet der religiösen Begegnung mehr als übereilte Synthesen oder oberflächliche Gleichsetzungen. 

 

Das Prinzip der Homogenität wird vervollständigt im dialogischen Prinzip. Denn eine ausschliessliche und strikte Anwendung des Prinzips der Homogenität würde jeden kritischen Zugang von vornherein unterbinden und keinerlei Fortschritt auf dem Weg des gegenseitigen Verstehens erlauben. 

Das dialogische Prinzip erlaubt unkritisch übernommene und unberechtigte Voraussetzungen bewusst werden zu lassen. 

(Bsp: Man kann vielleicht die Weltsicht verstehen, die den Tieropfern zugrunde liegen, aber man wird sie dennoch für unreif, falsch und barbarisch halten. Man ist zu einer Bewusstheit gelangt, die die Unangemessenheit bestimmter Vorstellungen erkennen lässt. Man ist zu einer Weltsicht gelangt, sie es einen ermöglicht, eine andere kritisch zu beurteilen. Vielleicht ist man dann in der Lage, Unstimmigkeiten oder unhaltbare Annahmen offenzulegen.)

 

6. Es ist nicht ein theologisches Symposium

Auf die Theologie (als hermeneutisches Werkzeug) soll nicht verzichtet werden, aber noch wichtiger ist es, sich erst einmal darüber klar zu werden, was denn eigentlich hermeneutisch erschlossen werden soll.

In diesem Sinne ist die religiöse Begegnung von Sadhya (dem eschatologischen Ziel) erfüllt. Sie erschöpft sich nicht in der theologischen Reflexion. Theologen bemühen sich um die Verstehbarkeit einer religiösen Überlieferung. Aber in der Begegnung gibt es nicht eine derartige Grundlage, kein Bekenntnis, das als gemeinsamer Ausgangspunkt analysiert werden könnte. Es gibt weder eine gemeinsam akzeptierte Offenbarung, noch ein für alle gleichermassen bedeutsames Ereignis (wie Weihnachten oder Janmastami), noch gar eine gemeinsame Tradition. Die religiöse Begegnung will also nicht analytisch vorgehen, sondern eher mystisch. Wenn das übergeordnete Vereinende, auf das die Begegnung abzielt, nicht in den Vordergrund rückt, wird sie zu einer theologischen Vergleichsstudie, die nicht über die Bedeutung eines kulturellen Ereignisses mit gewissem Unterhaltungswert hinauskommt.

 

7. Sie beschränkt sich nicht auf das Votum der offiziellen Stellen

Die Begegnung der offiziellen Vertreter der organisierten religiösen Gruppen der Welt gehört heute zum Pflichtprogramm der Traditionen. Doch wobei es in diesen Treffen geht, ist nicht dasselbe wie das, worum es in Gesprächen geht, die sich bemühen, die tiefstmögliche religiöse Ebene zu erreichen. 

Offizielle Würdenträger sind verpflichtet, die Tradition zu wahren, sie müssen die grosse Zahl der Gläubigen im Auge halten, die zu ihrer religiösen Gemeinschaft gehören und für die sie die Verantwortung tragen. Sie werden vor allem mit unmittelbar anstehenden praktischen Fragen und Problemen konfrontiert, sie müssen Wege finden, einander zu tolerieren, miteinander zusammen zu arbeiten, einander zu verstehen. Im Allgemeinen werden sie sich aber nicht auf neue Wege, Antworten und Lösungen einlassen können. Ihre Aufgabe ist es, bereits erprobte, fruchtbare Wege gutzuheissen und für ihre Umsetzung in die Praxis zu sorgen. 

 

8. Es handelt sich um eine religiöse Begegnung in Glaube, Hoffnung und Liebe

Das Wort „religiös“ steht nicht für eine bloss äusserliche Frömmigkeit oder Bindung an eine Religionsgemeinschaft. Es zielt auf die Integrität der Personen, die am Gespräch teilnehmen. Mit anderen Worten, es bezieht sich nicht ausschliesslich auf religiöse Ideen und Ideale, wie wenn es in der Begegnung nur um lehrmässige Streitfragen ginge. Man erörtert im Gespräch sich selber und sitzt nicht einfach an einem Verhandlungstisch, sondern sich ist selber mit allem, was man ist, Gegenstand der Verhandlung.

Das bedeutet, dass die echte religiöse Begegnung nie objektivierbar ist. Nicht objektivierte Bekenntnisse sind Gegenstand des Gespräches, sondern wir selbst, die Glaubenden und Bekennenden selber. 

 

Ich bekenne mich vielleicht dazu, dass die Lehre X die bestmögliche Weise ist, eine bestimmte Wahrheit und das Geheimnis Gottes selber in Worte zu fassen. Du bekennst dich vielleicht dazu, dass es die Lehre Y ist, die dieser Anforderung am besten genügt. X und Y sind durchaus verschieden, ein Kompromiss ist nicht in Aussicht. Es geht auch gar nicht darum, sondern nur um die gemeinsame Auseinandersetzung. Die Begegnung als glaubende Seelen verbindet die scheinbare Kluft. 

 

Glaube ist die Haltung, der die nackten Tatsachen ebenso transzendiert wie die dogmatischen Formulierungen der verschiedenen Konfessionen. Glaube ist eine Haltung, die ein Verstehen möglich macht, auch wenn Worte und Begriffe einander widersprechen, weil er bis in die Tiefe jenes Bereiches vordringt, der das Religiöse schlechthin ist. Man erörtert nicht spirituelle Systeme, sondern Wirklichkeiten und Weisen, wie sich diese Wirklichkeiten zeigen und kundtun. 

 

Hoffnung ist die Haltung, die wider aller Hoffnung hoffend in der Lage ist, nicht nur die anfänglichen menschlichen Hindernisse, Schwächen und unbewussten Bindungen, sondern auch alle Spielarten einer rein profanen Einstellung zu überwinden und bis zur Herzensmitte des Gespräches vorzustossen – von oben gedrängt, einen heiligen Dienst zu vollziehen. 

 

Liebe ist der Impuls, die uns die Nähe unserer Mitmenschen suchen und uns in ihnen entdecken lässt, was in uns fehlt. Echte Liebe will nicht um jeden Preis als Sieger aus der Begegnung hervorgehen. Sie sehnt sich nach der gemeinsamen Erkenntnis der Wahrheit, ohne die Unterschiede einfach wegzuwischen oder auch nur die Verschiedenheit der Melodien in der einen und einzigen polyphonen Symphonie zu dämpfen.