Spirituelle Aufarbeitung von Verbrechen
Zur Theodizee-Frage
Eine Reflektion zur brutalen Vergewaltigung einer jungen Inderin
Bei Naturkatastrophen und schlimmen Delikten werden die betreffenden Personen psychologisch betreut und es wird ihnen Hilfe und Beistand zugestanden.
Es bräuchte aber auch theologische Aufarbeitung, wie ein solches Geschehen mit einem gütigen Gott zu vereinen ist.
Die jahrelangen Pestplagen und letztlich das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, einer der dazumals grössten Städte der Welt, waren für das religiöse Kollektiv nicht mehr vereinbar mit war ihrem Gottesbild des gütigen Gottes und somit wurde dies ein äusserer Auslöser für das Zeitalter der Aufklärung.
Ihr Gedanke war einfach:
Gott existiert.
Das Übel existiert.
Wenn Gott existiert, dann ist Gott allmächtig, allgütig und allwissend.
Weshalb existiert dann all das Tragische in der Welt?
Das ist eine Frage, welche auch in unserer Zeit viele Menschen auf dem Herzen tragen.
Die Gott zugeschriebenen Eigenschaften passen nicht zusammen mit dem Zustand und der Geschichte der Welt.
Ein Gott, der Leid verhindern könnte und es nicht verhindert - müsste aufgrund unterlassener Hilfeleistung vernommen werden.
Im Betrachten der Weltgeschichte erkennt man, dass die Welt nicht die Eigenschaften besitzt, die sie haben müsste, wenn sie von einem allmächtigen, allgütigen, allwissenden Wesen geschaffen worden wäre und noch immer von ihm erhalten würde.
Das Universum hat genau die Eigenschaften, das es haben müsste, wenn es keinen Gott gibt, der das gedacht und geplant hat.
Grausam, willkürlich, sinnlos…
In der Genesis heisst es, dass Gott seine Schöpfung für gut befand.
Ein allmächtiger und guter Gott dürfte nicht gleichzeitig so viele Beweise einer anscheinend durchdachten, geplanten Güte im Universum und so viele Zeichen einer berechneten, kalten Bosheit zeigen.
Der agnostische Philosoph Bertrand Russell bekundete "höchstes Erstaunen" darüber, "dass Menschen glauben könnten, diese Welt mit allem, was sich darin befindet, und mit all ihren Fehlern sei das Beste, was die Allmacht und Allwissenheit Gottes in Millionen von Jahren erschaffen konnten". Er fragte: "Meinen Sie, wenn ihnen Allmacht und Allwissenheit und dazu Jahrmillionen gegeben wären, um ihre Welt zu vervollkommnen, dass Sie dann nichts Besseres als den Ku-Klux-Klan oder die Faschisten hervorbringen könnten?"
Man geht aus von einem Gott der Güte, der Liebe, und man erlebt eine Welt voller Ohnmacht, voller Grausamkeit und Absurditäten.
Ein allmächtiger Gott hätte viele Möglichkeiten, Leidende "aus dem Leiden zu ziehen" - was soll man davon halten, wenn er sie nicht nutzt? Was würden wir wohl von einer Mutter halten, die ihrem schwerkranken Kind eine heilende Medizin vorenthalten würde und darauf verweisen würde, dass sie ja bei ihrem leidenden Kind sei und ihm "beistünde"? Würden wir uns nicht an den Kopf fassen? Würden wir uns nicht fragen, ob man so einer Mutter nicht das Sorgerecht entziehen sollte? Ob man sie nicht auf ihren Geisteszustand untersuchen sollte?
Die Theodizee-Frage (weshalb ein gutmeinender Gott Leid in der Welt zulässt und in diesem auch noch schweigt) hatte sich auch schon vor der christlichen Zeitrechnung der griechische Philosoph Epikur (314-270 v Ch.) gestellt gehabt.
Das christliche Gottesverständnis verklärt dann einfach das Leiden als Gnade: "Gott ist bei den Leidenden. Gott zieht uns nicht plötzlich aus dem Leiden, aber wenn wir leiden und angefochten sind, steht Gott uns bei."
Dieses Denken hat zur jahrhundertealten Erdenschwere des abendländischen Denkens beigetragen.
Auf diese uralte, philosophische Frage, wie sich Gottes Gerechtigkeit und Liebe mit dem Leid dieser Welt und all ihren Übeln vereinbaren liessen, antwortet ein Chor philosophischer Skeptiker vielstimmig durch die Jahrhunderte:
"Entweder will er sie nicht verhindern, dann ist er nicht heilig, gerecht und gut; oder er kann nicht, dann ist er nicht allmächtig; oder er kann nicht und will nicht, dann ist er schwach und
missgünstig zugleich; oder er kann und will es, - wieso gibt es dann diese Übel?"
Da oft Antworten ausgeblieben sind, haben viele Menschen verständlicherweise die religiöse Gleichgültigkeit vorgezogen. Sie halten sich mit dieser Frage, die man auch als das "Theodizeeproblem" nennt, Gott vom Leibe.
Es gibt auch theistische Ansätze, reif mit dieser Frage umzugehen.
Das Leid der Welt ist weder ein Beweis für Gott noch ein Beweis gegen Gott. Aber es ist auf jeden Fall eine Herausforderung, nicht zu naiv von Gott zu reden. Das Leid stellt das eigene Gottesbild infrage und zwingt einen zur Reflektion.
Naives Verständnis muss immer sterben, aber eine tiefe Auseinandersetzung mit Gott und wie das Weltgeschehen mit ihm vereinbar ist, kann auch zu einer reiferen Gottesbeziehung führen.
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Unser Planet soll offensichtlich nicht die Imitation des Paradieses werden. Solange wir in einer unvollkommenen Welt leben, wo die Illusion möglich ist, sich unabhängig von Gott zu wähnen, werden ungewünschte Lebensumstände natürlich sein.
Man kann in einer ursprünglich widernatürlichen Umgebung, was die gesamte Schöpfung für die ewige Seele ja darstellt, das Schöne und Gute nicht als naturgegeben erwarten.
Naturkatastrophen, sowie von anderen Menschen und vom eigenen Geist entstandene Unannehmlichkeiten und Ärgernisse werden unausweichlich unsere Begleiter sein. Die Bibel unterstreicht diese Tatsache mit den Worten, "dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet" und auf den Tag wartet, da sie frei wird "von der Knechtschaft der Vergänglichkeit". (Römer 8,21.22)
Die Bhagavad Gita (8.15) spricht von der materiellen Schöpfung als „dukha-laya“ dem Ort der Beschwerden, in welchem Leiden zur inhärenten Arrangierung dazugehört. Denn die Schöpfung richtet sich nicht nach den eigenen momentanen Vorstellungen.
Da wir von unserer Natur her unvergänglich sind, übertragen wir die Sehnsucht der Erfüllung im Beständigen in diese Welt hinein und die dadurch nicht erfüllte Hoffnung erzeugt die Leere der Enttäuschung.
Gerade in der westlich christlich geprägten Kultur wird Leiden oft idealisiert.
So hört man immer wieder, dass Menschen am Ende ihres Lebens zurückblickend sagen, dass die härtesten Zeiten die besten waren, in welcher sie verstanden haben, worauf es wirklich ankommt. Leiden solidarisiert die Menschen und es wird gedacht, dass es einem lernt, auf Gott zu vertrauen und seine Gegenwart aufzusuchen.
Das ist aber nicht wirklich nötig. Ein glücklicher Lebensansatz wird nicht dem Leiden noch Bedeutung zuschreiben, um es so als Lebensnotwendigkeit hinzustellen.
Die Bhagavad Gita beschreibt, dass nicht die Welt in sich leidvoll ist, sondern nur die nicht erfüllte Erwartung, die man in sie hatte.
„Die Natur gilt als die Ursache aller materiellen Ursachen und Wirkungen.
Die Seele aber ist die Ursache von der Erfahrung von materiellem Glück und Leid.“
(Bhagavad Gita 13.21)
Die Interpretation der Umstände, der gegebenen Geschehnisse, wie man sich in ihnen verhält, liegt in der Verantwortung der Seele. Sie nimmt die endlose Veränderlichkeit wahr und in der Identifikation mit der äusseren Welt hält sie diese für ihre eigene. Wenn der Körper alt wird, denkt man, man würde alt.
Identifikation ist also ein Limitierungsprozess, der die unberührte Identität seiner Selbst an zeitweilige Phänomene anklebt.
Identifikation ist, sich für etwas anderes zu halten als das, was man ist.
Hält man sich für den Körper, sieht man die Welt nur noch aus dieser reduzierten Perspektive. Auch Gemütsstimmungen wie Wut können zum Identifikationsobjekt werden und somit zur Linse, durch welche man die Welt betrachtet. So ist Identifikation ein Interpretationsmuster.
Im Tierreich existiert erzwungene Identifikation. Eine ewige Seele denkt plötzlich, sie müsse herum bellen – nur weil man sich gerade in einem Hundekörper aufhält. Als Mensch bestünde die Möglichkeit aus der Gesteuertheit der Körperprogramme herauszutreten.
Wenn es heisst, die Welt sei Leiden, dann ist damit ausschliesslich meine Verhaftung an die Welt und meine Verstrickung und Verknüpfung und die Absorption des Bewusstseins mit ihr gemeint – also all die Hoffnungen und Erwartungen, die man auf sie übertragen hatte. Es gibt kein Leid in Isvara-sristhi (in der Schöpfung des Herrn). Die Lebenssituationen können wir nicht immer wählen. Vieles kommt unerwünscht. Die existenzielle Schwere aber ist selbstauferlegt.
Das ist so befreiend! Krankheiten kommen, verursacht von der materiellen Natur. Aber es ist nicht vorbestimmt, dass diese zu einem Leid werden muss, denn dafür bin ich selber verantwortlich.
Wir haben eine angewohnte Tendenz in uns, zur Welt hin zu reagieren.
Aber alles ist immer in Krishnas Hände - und zu oft bewerten und kommentieren wir die Umstände, bewerten sie und leiden daran, dass sich unsere Hoffnungen nicht erfüllen.
Nicht auf das Geschehen zu reagieren ist eine der wesentlichen Übungen im Yoga.
Die reine Seele erfährt die materiellen Zustände nicht, es ist nur die Identifizierung, die ihr Bewusstsein an das weltliche Glück und Unglück ankettet. Man nimmt sie wahr ohne festzuhalten oder zu verdrängen. Sie sind vorbeiziehende Erlebnisse, aber erzeugen keine Resonanz mehr. Ohne Identifikation mit den Lebensgefühlen existiert nicht leere Gefühllosigkeit, sondern dies ist der Beginn der wirklichen Beziehung der Seele zu Gott.
Widrige Erlebnissituationen erinnern auch daran, dass wir nicht in Kontrolle des Geschehens sind. Weder die Kräfte der Natur noch die Mitwelt von Menschen und Tieren vermögen wir zu beherrschen oder zu bezwingen. Diese Einsicht bewahrt uns vor der Hybris, uns zu übernehmen und dadurch uns zu überheben und wird uns in die Demut führen.
Das alleine ist schon wertvoller als die Aufblähung des Ichs in einer Welt, wo ihm alles gelingen würde.
Was wäre, wenn in der Welt alles nach der eigenen Vorstellung verlaufen würde?
Erstaunlicherweise wäre selbst dann der genau gleiche Anteil Schwerheit und Leiden vorhanden. Denn Leiden ist nicht das objektive Erleben von Zuständen, sondern die eigene Reaktion auf diese hinzu.
Wenn jemand im Glauben lebt, dass bestimmte Lebenszustände das Glück und Leid erschaffen würden, wird sein Leben zum Versuch, diese möglichst zu kontrollieren. Der innere Weg betrachtet als das Ziel des Menschseins nicht die Souveränität über alle Umstände, sondern das Mass an Liebe, welches man aufbringt unabhängig aller Lebenssituationen. Wir erfahren auf geheimnisvolle Weise, dass unser Glück nie abhängig ist, ob der Lebensverlauf glatt oder tragisch ist.
Die Schöpfung ist nicht fehlerfrei-statisch angelegt sein, sondern dynamisch-wild, mit Erdbeben, Wirbelstürmen und unser aller Tod am Ende als Gewissheit.
Dass wir zur Liebe fähig sind bedeutet auch, dass wir auch für Vertrauensmissbrauch, Lüge, Betrug, Verrat, Enttäuschung, Verletzung, Mord etc fähig sind.
Liebesfähigkeit impliziert die Möglichkeit und das potenzielle Vermögen, auch anders zu handeln können.
Eine heute perfekte Welt würde ich zudem morgen schon wieder verändern wollen, da auch sie mir nicht behagt auf lange Sicht.
Wäre alles immer perfekt, wären wir immer stark, immer fehlerlos, könnten immer die volle Leistung geben und würden nie scheitern, geschweige denn böse Gedanken hegen, dann würden wir uns selbst genügen. Das Auf-Sich-Selbst-Bezogensein ist aber eine Erstarrung, die nicht auf ein Hinzu mehr fliessen kann.
Der Vollzug einer Wende der Aufmerksamkeit vom Warum zum Wozu hin ist genau das, was einen inneren Weg ausmacht.
Als Jesus am Kreuz hing und die berühmten Worte „Eli, Eli, lama asabtani“ ausschrie, da hat er möglicherweise gar nicht gefragt „Mein Gott, warum hat du mich verlassen?“, sondern „Mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“, denn im Hebräischen gibt es für „Warum“ und „Wozu“ nur ein Wort. Und in der Tat ist das „Wozu“ im Hinblick auf die Frage des Leides wichtiger ist als das „Warum“. Denn wenn man mitten in Schwierigkeiten steckt, dann macht es nun nicht mehr viel Sinn, in die Vergangenheit zurück zu schauen und zu lamentieren, warum das passiert ist. Nun tut sich eine neue Chance auf, weiter zu blicken und frei entscheiden, wie man auf die gegebene Situation reagieren möchte, was einem nun wirklich wichtig ist und wohin man sich nun orientieren und hinwenden möchte.
Es ist nicht möglich, von der Welt her und von dem Geschehen darin Gott zu denken. Die Theologie kann nicht Kausal-Fragen beantworten ("warum ist es geschehen?"), sondern beleuchtet das Wozu. Es geht um die teleologische Frage, der Frage, was Gott mit uns beabsichtigt.
Krankheit, Unglück, Schicksalsschläge werden schnell als Strafe Gottes für das Fehlverhalten der Menschen interpretiert. Man hat durch Schuld den Himmel provoziert. Man will es verstehen und einordnen können. Wird die Welt nach einer moralischen Ordnung interpretiert, kommt sie einem häuslicher vor. Gott ist ein Vater, der seine Kinder lenkt - durch Lob, Strafe und Tadel. Wenn Frevler im Wohlergehen leben und Gerechte im Leiden, erwartet man vom Gottesrichter, dass diejenigen, die unserer Anschauung gemäss widrig handeln, gehörig bestraft würden.
Das ist ein sehr naives und archaisches Gottesbild, von dem sich viele Menschen unserer Zeit intuitiv befreit haben. Wirklichkeit ist umfassender und verläuft nicht in solch primitiven Rache-Mustern. Aufgeklärte Religion fordert nicht Gerechtigkeit, sondern führt in die Liebe.
Das theologische Problem darin ist ein falsches Naturverständnis. Die Natur ist Natur und man kann von ihr aus keine Rückschlüsse auf Gott ziehen. Religion bedeutet, sein Leben von Gott her liebend zu ordnen. Diese Liebe lernt man nicht in der Natur.
In der Natur bewirken Schicksalsschläge die Ausschliessung aus der eigenen Gruppe. Eine Öl-Möwe wird vom Schwarm zerhackt, da sie anders aussieht. Die Schwachen und Kranken in der Natur sollen sich nicht fortpflanzen. Sie werden nicht zur Generation zugelassen. Sozial-Darwinisten legitimieren aus dieser Grausamkeit der Natur ein rücksichtsloses Weltbild, wo einfach nur der Stärkere überlebt (survival of the fittest).
Der russische Anarchist Kropotkin schreibt in „mutual aid“ (1902), dass auch Mitgefühl, Barmherzigkeit und das Rückstellen eigener Interessen zugunsten Anderer Bestandteil der Natur sind. Aber die absolute Güte lässt sich nicht aus der Natur ableiten, da die Ambivalenz von Rücksichtslosigkeit und Mitgefühl inhärent in ihr existiert.
Es ist grundlegend falsch, die Welt als ein Zeugnis von Gott zu betrachten, der in ihr seine Güte, Macht, Weisheit und Schönheit offenbare. In der Gita (7.4) sagt Krishna: abhinna prakritir astadha "Diese Welt ist meine abgesonderte Energie." Und diese kann man nie mit ihm gleichsetzen. Gott schwebt keine Welt vor, in der die Menschen nicht leiden.
Der Gedanke an eine leidensfreie von Gott geschaffene Welt ist eine menschliche Projektion. Es ist eine Hoffnung auf einen Zustand des Ego, des Zustandes der Gleichgültigkeit zu Gott und der daraus folgenden der Identifikation mit Materie, in dem es sich wohl fühlen darf. Die Vorstellung von Glück, die dem Ego entspricht, ist diejenige einer diejenigen
Krishna spricht in der Gita (8.15) davon, dass in dieser Welt aufgrund ihrer Zeitweiligkeit alle eigenen Vorstellungen, die wie Fixierungen des Geschehens darstellen, enttäuscht werden und dass letztlich jede persönliche Verhaftung im Drama endet.
Gott schwebt nicht eine leidensfreie Welt vor. Da der Aufenthalt in dieser Welt von vornherein unnatürlich ist.
Deshalb darf man die Gnade Gottes nie auf die körperliche und feinstoffliche Ebene reduzieren. Krishna will uns nicht die Traumidylle schaffen. Das wäre die Idee des Calvinismus, welche Gottes Gnade auf innerweltliches Wohlbefinden und Erfolg reduziert.
Gott ist mehr als seine duale Schöpfung der materiellen Welt. Gott steht über Natur mit ihren widersprechenden Kräften (Bhagavad Gita 7.13).
Die Natur nimmt keine Rücksicht auf ihre Geschöpfe. Religion kann deshalb ihre Grundlage nicht in der Natur finden. Pantheismus, Gott mit der Natur und den Abläufen in ihr zu indentifizieren, ist oberflächliche Schwärmerei, denn es gibt in dieser Natur auch die Grauenhaftigkeit und die Rücksichtslosigkeit, das Böse. Wenn man Gott auf die Natur, seine Schöpfung, reduziert, dann wäre diese Ambivalenz die verpflichtende Vorlage für unser eigenes Handeln. Dann müsste ich so umgehen, wie es die Natur tut (viele Fleischesser verteidigen ihre Mordeslust mit dem Argument, dass gewisse Tiere ja auch Fleisch essen würden) - aber genau das darf ich nicht. Der Mensch hat als einziges Wesen einen anderen Auftrag: Nicht nach dem Gesetz Gottes zu leben ("natürlich"), sondern nach dem Willen Gottes. Dharma ist nicht Ethik, sondern eine von Gott her definierte Verhaltensweise.
Sri Krishna ist der Hintergrund jenseits der Phänomenalität dieser Welt.
Augustinus schreibt in "Confessiones", wie er auf die Suche nach Gott geht und die Sonne, den Mond, die Sterne, die Wüste, das Meer, die Wunderbarkeit der Natur befragt und sie alle sagen ihm: "Ich bin nicht der Gott, nach dem du suchst."
Krishna wohnt in der Sehnsucht nach einer Liebe, die in der Natur nicht zu finden ist. Die Natur ist nie der Ruheort der Seele - sie kann erst im Unendlichen ruhen, erst bei Gott.
Der Mensch hat etwas, was es in der Natur nicht gibt - Religion, der Entwurf einer übernatürlichen Liebe, die auf Gott gerichtet ist und von da her in diese Welt hinein handelt.
Es geht nicht darum, alles in dieser Welt zu lieben und es mit Gott gleichsetzen zu wollen, sondern die auf Gott gerichtete und genährte die Liebe wieder in die Welt hineinströmen zu lassen.
Die Liebe Gottes lässt sich nie ergründen in der Natur, sondern trotz der Natur. Wenn man Gott nur auf seine Schöpfung reduziert, den König also nur noch als den Gefängniswächter betrachtet, wird man die Ambivalenz der Natur auf Gott übertragen. Das dualistische Gottesverständnis vermag auf die Theodizee-Frage keine Antwort geben und der Enttäuschungs-Atheismus wird darauf folgen.
Leiden ist der Hinweis darauf, noch nicht angekommen zu sein. Noch nicht seine wirkliche Bestimmung zu leben und sich noch im Provisorischen aufzuhalten, eben ausserhalb seiner Nitya-sambandha (seiner ewigen Beziehung zu Radha Krishna).
Es geht um unbedingtes und restloses Vertrauen zu Gott, trotz Unfähigkeit, das Rätsel des Leids und des Bösen enträtseln zu können. Man kann die genaue Ursache des Leides nicht immer "erklären", aber bestehen.
Nachdem Hiob durch so viel Leid hindurch gegangen ist, sagt er am Ende des Buches in Hiob (42,5): "Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen."
Ist Gott leiderzeugend? Hiob legt den Finger auf dem Mund und schweigt vor Staunen in Anerkennung des riesigen Ausmasses seines Nichtwissens. Er verliert die Grundlage, sich zu beschweren.
Wie will ich einen langen Roman verstehen, wenn ich nur eine einzige herausgerissene Seite daraus gelesen habe? Aus der Perspektive der Reinkarnationen zerfällt die momentane Wertung. Wenn ich die eigene Lebensgeschichte nicht nur als den kleinen Ausschnitt dieses einen Lebens, diese Buchseite, betrachte, sondern aus vielen tausenden von Weg-Etappen, dann sehe ich auch mich in einem anderen Licht und vieles wird klarer aufgrund des Erkennens eines grösseren Kontextes.
Die Anklage Gottes aufgrund des Leidens in der Welt beruht auf einem Lebensverständnis, welches sich stark an der äusseren Dualität orientiert. Dass nämlich das äusserlich Angenehme erstrebenswerter sei als das Unangenehme.
Gott entlässt die Welt ihrer Autonomie... um des menschlichen Freiseinkönnens. Das heisst, er greift nicht ein in den Geschichtsverlauf des Weltgeschehens. Seine Intervention ist die ganz feine Schenkung des ersten Funkens von Sraddha - unverrückbarem Vertrauen, aus welchem heraus sich dann die ganze spirituelle Praxis ergibt.
Reine Bhakti ist die bedingungslose Zuflucht in Gott. Da sie der Liebe entspringt ist sie natürlicherweise freudvoll in sich selbst und verlangt gar nicht noch zusätzliche Ergebnisse - auch nicht die Linderung von Leid oder die Befreiung von dem Dasein in der Welt.
Wer auf Zeichen im Aussen wartet, tut dies vergeblich. Aber sein Wirken wird im Bereitstellen und Begleiten auf dem inneren Weg klar ersichtlich.
Wenn Gott jedes Mal in den Lauf der Naturgewalten eingreifen würde, dann hätten wir eine perfekte Welt, wo alles am Schnürchen laufen würde. Wie ein Marionettenspieler hätte Gott alle Fäden in der Hand. Wo bliebe da noch Raum für Selbstständigkeit und Freiheit? Ebenso muss gefragt werden, was denn der Ausdruck "Herr der Schöpfung" eigentlich meint. Das heisst nicht, dass er alles "regiert", indem er ständig eingreift und wie ein Diktator alles bestimmt.
In der Welt geht es mit rechten Dingen zu. Seine Intervention ist nicht auf der praktischen Ebene. Vielleicht greift Gott nicht so in unser Leben ein, wie wir es erhoffen - aber was würde dann passieren? Wenn Gott wie ein Weihnachtsmann auf unsere Gebete hören und uns alles geben würde, was wir wollten - wären wir dann der Erfüllung nur einen Schritt näher?
Wenn Gott die Begehren des Lebewesens zufrieden stellen würde, dann wäre dies ja der von Gott unterstütze Eigenwille. Dies wäre die genaue Umkehr des tiefsten Gebetes, dass SEIN Wille geschehen dürfe. Es wäre zu vereinfacht zu denken, dass Gott unseren menschlichen Ansprüchen gerecht werden sollte.
Wenn Gott dies tun würde, wäre die Motivation der Gotteszuwendung ein erfolgreicheres Leben im Aussen.
Wieso will man von Gott Rechenschaft fordern, wenn Dinge komplett der eigenen Vorstellungswelt entgegen verlaufen? Das Loslassen der naiven Idee, dass Gott von aussen her einzugreifen hat in den Kosmos und da Wunder zu bewirken hätte, macht einen sensibel für die feinen Aufzeichnungen seines Seins im Innern.
Das ist der Ort der Gottesantwort.
Gott hat vorgesehen, dass die Schöpfung erst dann wirklich leidensfrei wird, wenn Schöpfung und Schöpfer sich verbinden, so dass die Kraft des Schöpfers durch das Geschöpf, den Menschen, in die Schöpfung hinein fliesst und er dadurch die Schöpfung für ihn durchlässig werden lässt.
Die Sonne erzeugt keine Schatten. Sondern die Abtrennung und Zurückhaltung des Sonnenlichtes vor bestimmten Orten, erzeugt die Schatten.
Gott erschafft nie Leiden und selbst der Erwachungsweg zu ihm hin kann leidensfrei verlaufen. Es ist die über unzählige Leben hinweg angewöhnte Selbst-Isolation vor ihm, die eigene Gottes-Entfremdung, die den Schatten erzeugte.
Gott wollte und braucht die gesamte materielle Welt nicht. Aus seiner Perspektive wäre sie effektiv nicht notwendig.
Doch gibt es keine Notwendigkeit für irgendeinen Menschen auf dieser Erde, aus dem Traum des Vergessen-Dürfens aufzuwachen, solange er nicht selbst in seinem Inneren diese absolute Notwendigkeit und Dringlichkeit annimmt und erkennt.
Warum lässt Gott, der doch als allmächtig und allgut bezeichnet wird, das Unangenehme in der Welt zu?
Diese Frage taucht erst auf, wenn man den Gottesbezug mit einer Nützlichkeit auf der praktischen Ebene verknüpft, wenn man Gott als Garant dafür versteht, eigene Vorstellungen erfüllt zu bekommen.
Es geschieht ständig Schreckliches in der Welt – Krieg, Krankheit, Mord, Gewalt, Umweltzerstörung, Hass, Hunger….Inmitten aller objektiven Geschehnisse ist die eigene Befindlichkeit eine Wahl und man braucht nicht von diesen bestimmt zu werden. Die Ereignisse der Welt sind nicht eine Verschwörung gegen die eigene Annehmlichkeit, sondern ein stiller Fluss der Prakriti, der das Wohlbehagen des Ichs gar nicht beabsichtigt und es auch nicht stören möchte.
Gott hat dem Menschen eine freie Entscheidungsmöglichkeit gegeben und sie dürfen sich entscheiden, auch das unvorstellbar Böse zu tun.
Er könnte es verhindern – aber dann müsste er ja auch alles verhindern, wo gegen die Harmonie der Welt gehandelt wird (beginnt dies bereits mit Falsch-Parkieren?) – und dadurch wäre die Freiheit des Menschen enthoben.