Urvertrauen und apostolisches
Glaubensbekenntnis
Spirituelle Gemeinschaft funktioniert nur, wenn die Seelen, mit denen wir Sanga haben, genug menschliche Reife aufweisen und durch die ausgeprägte Individualität
des anderen nicht in Frage gestellt wird. Für gewisse Spiritualisten stellen die individuellen Lern- und Wachstumsphasen einer anderen Seele eine Bedrohung dar. Und Menschen, die sich angegriffen
fühlen, können sehr grausam werden... speziell wenn ihre religiöse Identität, das bisherige Glaubensbekenntnis, in Frage gestellt wird.
Damit freie Gemeinschaft ermöglicht wird, bedingt das die Abkopplung vom Gruppenabhängigkeitsgefühl und die Festigung in der individuellen Beziehung zu Gott. Es benötigt die Selbstverankerung in
eigenen Erfahrungen und ein Respektieren der inneren Lebensspur, dem innersten Gewissen (die Taubheit der inneren Führung gegenüber wird im Lateinischen „ab-surdus“ genannt). Die Gewissheit des
Herzens sprengt mit grosser Wahrscheinlichkeit die Norm und die Form, die religiösen Vorgaben.
Gemeinschaft auf dieser Grundlage ist nicht geprägt von ständigem Beurteilen der Anderen (in spirituellen Gemeinschaften erlebt man die Glaubensbrüder oft als restriktives Glaubenskomitee), da man Eigenheit wirklich erlebt und von der Eigenheit der Anderen nicht bedroht wird.
Auf diesem Grundgefühl erst kann man ein wirklich Suchender sein, offen für die Wirklichkeit und nicht befangen vom religiösen System.
Der aufrichtig Suchende wird vieles in Frage stellen müssen, vieles der Theopraxis mag sogar wegfallen und doch macht er die Erfahrung, dass er sich nicht abtrennt von der Gottesbeziehung. Man kann zur gleichen Zeit Kritiker als auch Glaubender sein. Die beiden schliessen sich nicht aus und bedingen sich vielleicht sogar.
Bhaktivinoda Thakur konnte eine kritische Exegese seiner eigenen Tradition machen und dennoch (oder deswegen?) ein ganz tief Glaubender bleiben.
Immer wieder sind spirituelle Weggefährten zu mir gekommen und bekamen einen Glaubensschock, als ich ihnen die Passagen aus der Einleitung der Krishna Samhita vorlas, wo Bhaktivinod Thakur sagt, dass das Srimad Bhagavatam nur 1000 Jahre alt ist in der vorliegenden Form und dass es auch nicht von Vedavyas verfasst wurde.
Diese Apostase wurde dadurch ausgelöst, weil sie ihre heilige Überzeugung, ihr Glaube an das gesamte idealisierte Dogma, an die Gesamtdoktrin gehängt haben. Und wenn nur ein kleiner Teil nun in Frage gestellt wird, droht das ganze Gebäude zusammenzustürzen.
Srila Bhaktivinod Thakur aber teilte den gesamten Inhalt aller heiligen Texte in zwei Grundkategorien ein (aus: Krishna samhita, Einleitung und „the bhagavat“)
-artha-prada
Damit meint er das apostolische Glaubensbekenntnis, die kumulative Tradition, in welcher die ewige Wahrheit erwachsen ist. Dies sind die relativen Aussagen der heiligen Schriften, die gemäss Bhaktivinod Thakur die ersten 9 Themen des Bhagavatam umfassen – siehe SB 2.10.1) Dazu gehört offensichtlich auch das Alter der heiligen Schrift und ihre Autorenschaft.
Dieser Teil der Schrift muss auch Bestandteil der menschlichen Analyse werden, soll kritisch beleuchtet sein und auch in Frage gestellt werden. Selbst wenn dies wegfallen würde, ist das Grundvertrauen deswegen unberührt.
Als Beispiel für artha-prada führt Bhaktivinod Thakur einen Vers des Srimad Bhagavatam an (12.1.19) in welchem beschrieben wird, dass eine bestimmte Königsdynastie in neuerer Zeit für 345 Jahre regieren werde. Der erste Kommentator des Bhagavatam, der mancherorts als sakrosankt gilt, bestätigte diese Aussage.
Bhaktivinod Thakur widerspricht nun beiden und erklärt aufgrund historischer Berechnungen diese Aussage als falsch.
Ebenso als artha-prada erklärt Bhaktivinod Thakur die vedischen Beschreibungen der Himmel und der Hölle. Die seien gemacht worden, um religiöse Praktikanten zur Moral zu erziehen mit der Strategie der Belohnung und der Bestrafung. Folgedessen dürfe man solche Aussagen (wie zum Beispiel im SB 5.26) nicht wörtlich verstehen.
Sehr offensichtliche Beispiele für artha-prada findet man zum Beispiel auch in den Büchern von Srila Prabhupada. Er schreibt dort, dass in jedem Universum nur eine Sonne existiere und dass alle Sterne, die man im Nachthimmel sähe, nur das Sonnenlicht reflektierten. (Erläuterung zu SB 3.15.2 und 5.16.4)
In den artha-prada-Bereich hinein fällt auch die gesamte Historizität einer religiösen Tradition, welche dem kritischen Blick nicht entzogen werden darf und nicht ideologisiert behandelt werden darf.
Der zweite Teil heisst:
-paramartha-prada
Damit wird der Transzendenzbezug gemeint, der nicht auf Struktur angewiesen ist. Es ist das Erleben, Seele zu sein und in jedem Moment im Austausch mit dem ewigen Gegenüber – Gott – zu stehen. Dieser Bereich ist absolut, transzendental und übersteigt den Erfassungsbereich des menschlichen Geistes.
Das Urvertrauen ist die natürliche Grundeigenschaft der Seele. Es ist Wesensnatur.
Aber das apostolische Glaubensbekenntnis ist eine mentale Tätigkeit, ein Festhalten an bestimmten, und wie es sich in der Geschichte immer wieder herausstellte, unwahren Ideen und Idealen. Die confessio mag aber ein Ausdruck des Grundvertrauens sein, genauso wie religiöse Architektur, Musik und Tanz.
Bhaktivinod Thakur macht die subtile, doch wesentliche Unterscheidung zwischen kumulativer Tradition, apostolischem Glaubensbekenntnis und Urvertrauen. Dadurch eröffnet er die Türe für die Möglichkeit einer empirischen kritischen Exegese.
Das Glaubensbekenntnis (artha-prada) ist Teil dieser Welt und darf und muss sogar –der religiöse Imperativ der ständigen Suche fordert danach – kritisch betrachtet werden. Es verändert sich auch in der Historie und wird geformt. Wer diese confessio (artha-prada) in seinem inneren Weg nicht von religio, dem paramartha-prada, zu trennen vermag, der kommt in eine Glaubenskrise wenn die Anschauung, oder nur schon Teile der Überzeugung, in Frage gestellt werden. Wenn jemand sein Vertrauen auf relative, von Menschen gemachte Grundlagen stellt, deren Natur der Wandel ist, muss er natürlicherweise Angst haben vor jeder neuen Anschauung und seine Spiritualität beschränkt sich auf den Kampf des Festhaltens. Der kleinste Widerspruch innerhalb der Schriften, Uneinigkeiten in den Kommentaren der Heiligen oder der kleinste Fehler dieser Heiligen in ihren Büchern (die aus dem Blickwinkel der kritischen Exegese natürlicherweise en masse anzutreffen sind) würde das Vertrauen schwächen. Deswegen wird es lieber ignoriert und die Auseinandersetzung damit wird dann oft vermieden mittels Verleumdungen der Kritiker.
Wenn das Krishnabewusstsein unter aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts ernst genommen werden soll, dann muss es für die kritische Exegese der Tradition, des artha-prada, offen sein.
Das Festhalten am Buchstaben, die allzu wörtliche Übersetzung der Auslegung, der Buchstabenglaube muss überwunden werden, um das paramartha-prada, den ewigen Inhalt des Krishnabewusstseins nicht nur Blind-gläubigen (die oft durch den Leidensdruck ihrer Unversöhntheit mit der Welt sich daran festklammern), sondern auch wachen und aufrichtig suchenden Menschen zugänglich zu machen.
Bhaktivinod Thakur hat mit seinen Ausführungen vor 150 Jahren sicher eine Türe dazu eröffnet.